Von kleinen Ärztlein, Lauterbachs beschwiegenem Reden und einem sich wandelnden Drosten.

Während der Weihnachtsferien kommt es naturaliter zu weniger Tests, außerdem sind die Meldeketten für Corona-Fälle verzögert. Nun stellt sich die Frage: wissen wir eigentlich überhaupt, wie gesund wir sind?

Frank Ulrich Montgomery, ein kleines Ärztlein, welches nebenbei auch Vorstandsvoristzender des Weltärztebundes ist und von Jura wenig Ahnung hat ist der Meinung, dass wir „über die Weihnachtsfeiertage keine vernünftigen Zahlen“ haben. Das findet er „mehr als peinlich“. Dass er die Richter des OVG Lüneburg als kleine Richterlein bezeichnet hatte, findet nun wieder die FAZ peinlich – und ich auch.

Karl Lauterbach, Bundesgesundheitsminister, spricht von einer „unklaren Datenlage„.

Ebenfalls Karl Lauterbach wagt aufgrund dieser unklaren Datenlage dennoch die mathematische Berechnung einer zwei- bis dreimal so hohen Inzidenz. Wofür so ne Dunkelziffer alles gut sein kann.

Wie ist das jetzt: werden wir erst nach den Weihnachtsferien merken, ob wir alle „geimpft, genesen oder gestorben“ sind, wie es Jens Spahn, Vorgänger von Karl L. prophezeit hatte? Oder werden Tote in den Weihnachtsferien auch nicht gemeldet? Holt man die einfach erst am 10.01.2021 ab? Wird aber etwas muffig riechen in Deutschland, wenn die erst dann abgeholt werden. Weil so richtig kalt ist es im Moment nicht wirklich und so ne Leiche verbreitet nicht gerade den feinsten Odeur.

Will sagen: was ist denn wichtig bei der Erhebung der Zahlen? Wer wie oft gehustet hat oder wie viele Menschen gestorben sind? In Frankreich wurden heute 174 296 Neuinfektionen gezählt. Gestorben sind aber nur 281 (WHO). Und bevor jetzt jemand in Montgomerys und Lauterbachs Horn stößt von wegen unvalide Daten: vor Weihnachten, am 20.12.2021 waren die Zahlen sogar noch niedriger, aber absolut valide: 48 473 Neuinfektionen, 75 Tote, 7-Tages-Wert: 157 (WHO). Das macht mir nicht gerade Angst vor Omikron. Die wichtige Zahl ist längst nicht mehr die der Neuinfektionen. Es ist die Frage nach der Mortalität.

Jetzt breche ich mal ne Lanze (hört, hört!) für Christian Drosten, in der breiten Impf-Klientel der wohl angesehendste Medizinier in Deutschland. Dieser scheint einen langsam spürbaren Wandel hingelegt zu haben. Erst gab er Streeck in manchen Punkten öffentlich recht, dann nahm er Abstand von dem hetzerischen Begriff einer Pandemie der Ungeimpften. Und nun spricht er bei Omikron von einer abgeschwächten Variante, wobei er sich auf eine aktuelle Studie der Vorweihnachtszeit beruft. Für die Validität dieser Aussage reichen auch die Daten aus, die bis zu Drostens Kommentar am 22.12.2021 vorlagen. Es geht also auch anders.

Corona-Proteste: zweierlei Maß

[Update 27.12.2021, 20:15 Uhr]

Erst das Ansehen eines Menschen beschädigen und im Nachhinein dann die Spuren verwischen – das ZDF hat den Beitrag geändert und Vermutungen als solche gekennzeichnet (Original: „…und die aus der Querdenken-Bewegung stammt…“) sowie die verleumderische und hetzerische Überschrift im Absatz (Original: „Kleinkind von Querdenkerin verletzt“) geändert:

[Update Ende]

Ursprünglicher Beitrag:

heute.de titelt im Artikel um 13:06 Uhr „Prozesse wegen Demo-Gewalt bereits heute“. Gemeint sind damit „beschleunigte Verfahren“ gegenüber 4 Teilnehmern einer Anti-Corona-Demo in Schweinfurt gestern. Dort waren – wie in etlichen anderen Städten Deutschlands – Tausende zu einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen und den vielfach diskutierten Impfzwang auf die Straße gegangen. Demonstrationen sind aufgrund des Infektionsschutzgesetzes inzwischen aber verboten. Und die Notlösung „Spaziergänge“ wird entweder durch polizeiliche Schikanen gestört oder ebenfalls verboten (vgl. Abbildung am Ende des Beitrages).

Aufsehen hatte ein Zwischenfall auf der Demo in Schweinfurt gestern erregt, bei dem die Polizei Pfefferspray so eingesetzt hatte, dass ein 4-jähriges Kind dies abbekommen hat und medizinisch versorgt werden musste. heute.de schreibt im o.g. Artikel dazu:

Ich übernehme jetzt mal die „Was wir wissen… und was nicht“-Form, mit der sich heute.de immer als besonders sachlich Berichterstattung brüstet – vermutlich um sich von der BILD-Zeitung abzuheben. Gelingt das? Schauen wir selbst:

Was wir wissen:

  • ein vierjähriges Kind und seine Mutter werden von der Polizei mit Pfefferspray attackiert.
  • das Kind muss medizinisch versorgt werden

Was wir nicht wissen:

  • ob es eine Demo war
  • ob die Frau eine bewusste Teilnehmerin des Spaziergangs war
  • ob sie die Darstellung der Polizei, sie habe eine Absperrung überwinden wollen, bestätigt
  • ob diese Frau eine Querdenkerin ist

Was heute.de stattdessen schreibt:

  • es sei eine Demo gewesen
  • die Frau sei bewusste Teilnehmerin dieser Demo gewesen
  • sie verschweigt, ob die Frau die Sicht der Polizei bestätigt hat oder nicht
  • die Frau sei eine Querdenkerin

heute.de setzt hier also irgendwelche unbestätigten Gerüchte in die Welt. Schlimm genug. Was dem Faß aber den Boden ausschlägt, ist die Formulierung im Titel: das Kleinkind sei von einer Querdenkerin verletzt worden. Damit ist also die Mutter gemeint. Die unterstellen dieser Frau nicht nur Fahrlässigkeit, sondern Vorsatz und noch dazu verdrehen sie die Tatsachen völlig. Das Pfefferspray ist von der Polizei eingesetzt worden und dieser öffentlich-rechtliche Sender verdreht die Fakten so, dass man denken muss, die Mutter hätte das Pfefferspray eingesetzt. Das ist unterstes BILD-Zeitungsniveau und verletzt jeglichen Anstand und die Menschenwürde der Mutter.

Der Shitstorm im Netz ist groß: vielfach ist zu lesen, wie widerwärtig es doch sei, dass die Demonstranten Kinder als Schutzschilde missbrauchten. Seitens der Polizei ist zu lesen:

Diese Aussage stammt von Oliver Malchow, Chef der Gewerkschaft der Polizei, aber die Aussagen anderer Polizeivertreter im Netz sind hier deckungsgleich. Abgesehen davon, dass hier eine Hexenjagd inszeniert wird und Persönlichkeitsrechte verletzt (wie bei der BILD-Zeitung eben auch), werde ich stutzig: was heisst das, man nehme in Kauf, in eine gewalttätige Auseinandersetzung zu geraten? In einem Rechtsstaat sollte man als friedlicher Demonstrant doch keine Angst davor haben, von der Polizei angegriffen zu werden, oder? Ich verstehe das jetzt mal als eine kaum noch unterschwellige Drohung: „wagt es nicht, gegen die Maßnahmen zu demonstrieren, sonst gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen“.

Im Übrigen möchte ich noch daran erinnern, dass gerade Identitäts-Linke sich schwer zurückhalten müssten mit dem Unterstützen dieses Spieß-Umdrehens. Damals, beim Schwarzen Donnerstag im Rahmen der Proteste gegen S21, hatten wir exakt dieselbe Situation. Menschen aller Coleur und jeden Alters gingen damals gegen den bevorstehenden Kahlschlag im Schloßpark demonstrieren, auch Kinder. Der Aufschrei war groß, als beim völlig unverhältnismäßigen Einsatz der Polizei hunderte Verletzte zu beklagen waren, auch Kinder. Die konservative bis rechte Seite der Gesellschaft benutzte damals genau denselben Jargon als Vorwurf an die Protestler: wie könne man seine Kinder nur auf eine Demo mitnehmen, wo doch klar sei, dass es zu Gewalt kommen würde?

Und nun haben Pseudo-Linke auch diesen Schritt zur Systemtreue vollzogen: sie stimmen ein in den einst rechten Tenor, die Frau sei selber schuld gewesen bzw. sei eine Rabenmutter usw. Dabei haben ebendiese Linken genau dasselbe Verhalten vor nunmehr 11 Jahren als Erziehung zu gelebter Demokratie verteidigt. Dieses Messen mit zweierlei Maß sagt mir: das sind keine Linken und sie waren es noch nie. Sie wollten einfach nur im Recht sein und Gewalt und Macht ausüben. Da sie das bei Corona nicht können, assimilieren sie sich eben an das System. Zur Erinnerung hier noch ein Foto, das damals durch die Medien gegangen ist:

Nur eines hat sich nicht geändert: der Totalausfall der Medien. Die haben die S21-Protestbewegung damals auch kleingeredet, Teilnehmerzahlen bei Demos großzügig gekürzt und den Fokus der Berichterstattung auf gewaltbereite Ausnahmefälle gelegt. Sie sind allem nachgekommen, nur einem nicht: ihrem öffentlich-rechtlichen Auftrag. Und somit sind sie auf eine perverse Art sogar noch zuverlässig.

Kein Nazi, aber…

AfD und wie sie alle heißen

Mei, 1968 hatte die NPD 9,8 % in BaWü und 2004 9,2 % in Sachsen.
Nee, schön wars nicht, aber das haben wir auch überlebt.
1981 wurde in den USA ein Cowboyfilm-Darsteller zum Präsidenten gewählt, der seinem filmischen Schaffen alle Ehre gemacht hat.
Diese groteske Gratwanderung der Geschichte zwischen den Abgründen „lustig und entsetzlich“ haben wir überstanden, wenn auch mit Blessuren.
1991 dann die Übergriffe auf Migranten jeglicher Coleur und jeden Alters (in Solingen war das jüngste Mordopfer 5 Jahre alt). Das tut bis heute weh, aber gewonnen haben die rechtsradikalen Mörder trotz aller Gewalt nicht.
Und nun die AfD im Siegestaumel, scheingetragen von den Fallschirmen Dreistigkeit und Blödheit.
14,5 % in Baden-Württemberg, da werden Sektkorken knallen heute nacht.
Puff! Puff! – wirds machen, ziemlich laut und untermalt von einigem Gejohle, welches zum Schluss dann in der einen oder anderen (oder vielleicht sogar dritten) Strophe des Deutschlandliedes aufgehen wird, sofern man das Gelalle dann noch von radegebrochenen Stammtischparolen unterscheiden wird können.
Und dann, nachdem das alles verpufft ist?
– was wird dann sein?
Eine AfD, die sich bar jeglicher Ahnung und absichtlich blind und taub stellend gegen alles stemmen wird, was entfernt nach humanistischer Politik riecht. Eine Partei, die immer noch nicht kapiert hat, dass Politik etwas mit dem globalen Dorf und den Zusammenhängen zwischen Staaten und ihren Menschen zu tun hat und niemand auf dieser Welt alleine ist. Letztlich ein Verein bereitwillig Ahnungsloser, deren ausphrasierte Formeln sich immer noch auf die eine, die alte, die mir so verhasste Milchmädchenrechnung kürzen lässt: „Deutsche zuerst, dann wird alles gut“.
4 Jahre wird es durchzustehen gelten, und am Ende dieser 4 Jahre, nach viel unnötig entstandenem Dreck, werfen wir diesen Dreck zu dem restlichen Dreck auf dem Dreckhaufen der Geschichte, in bester Gesellschaft mit der NPD, Ronald Reagan und den Mördern von Solingen.
Mir tuts nur leid, dass es bis dahin viele Flüchtlinge schwerer haben werden, irgendwie zu überleben.
Und das muss man als Demokrat leider aushalten: Du schleifst ein paar Ewig-Gestrige mit, die einen Scheiss darauf geben, was Demokratie bedeutet, obwohl sie auf ihrem Rücken erst zu politischer Macht gelangen. Am liebsten würde ich ihnen sagen: „dann macht doch mal kaputt, was die Demokratie ausmacht, stutzt Freiheit, Bürgerrechte, internationale Solidarität“. Allein der Gedanke, was dann geschähe, allein die Erinnerung an jenes andere Mal, als man gemeint hat, den Falschen mit „ein bisschen Macht“ ruhigstellen zu können, macht mir Angst und deshalb gebe ich nicht auf, diese Brut zu verachten und zu bekämpfen, denn:
wir haben nur eine Demokratie, und die gilt es zu schützen. Das mit der AfD wird vorübergehen, da habe ich keine Zweifel. 4 Jahre und dann ist Schluss. Aber bis dahin werden sie einiges kaputtmachen, wofür echte Demokraten einst gekämpft haben und gestorben sind.

Flüchtlingskatastrophe: helfen, egal warum (keine Bilder von toten Kindern)

Die Welt ist geschockt. Das Foto der an den Strand gespülten Leiche des 3-jährigen syrischen Jungen hat der anonymen humanitären Katastrophe ein Gesicht, einen Namen gegeben. Ich selbst habe ein paar Tage zuvor in meiner facebook-roll mehrere Fotos, ebenfalls von ertrunkenen Kindern gesehen. Wie das so ist, gefragt hat mich T.K. aus meiner Freundesliste nicht, ob ich es sehen will. Zwischen Cartoons, witzigen Anmerkungen zu alltäglichen und Event-Einladungen tauchten sie plötzlich auf und bevor mir überhaupt klar war, was ich da sehe, hatten mich die Bilder schon mit ihrer vollen Schockwirkung erfasst.

 

Ich war eigentlich immer sauer über fb-Freunde, die Schockbilder gepostet haben, sei es im Falle der Massentierhaltung, aber auch bei Nonsens wie z.B. Bild-PlugIns, die das Profilfoto ver-zombi-sieren. Facebook ist ein großes Boulevard-Magazin, an dem alle mitschreiben und ich habe viele der politisch ach so aktiven Sesselrevolutionäre gehasst für ihr verlogenes Treiben, das sich die denkbar ungeeignetste Plattform für die Weltrevolution gesucht hatte. Du fängst ja auch nicht mitten in einem Smalltalk an, Tod und Elend zu schildern. Aber facebook scheint für jeden etwas anderes zu sein und für manche ist es wohl ein mittel zur Revolution vom heimischen Monitor aus.

 

Diese Leute, da bin ich immer noch derselben Meinung, tun selten mehr als bequem auf ihrer Maus rumzuklicken und setzen um der Wirkung willen auch drastische Mittel ein: als ginge es darum, andere möglichst schnell und effektiv zum Auskotzen ihres Morgenkaffees zu bringen, ekelhafte Bilder postend, Tränen und Betroffenheit erwähnend.

 

Und nun hatte mich dieses Bild erreicht und die 2 Sekunden, die ich gebraucht habe, um es wegzurollen, waren zu lang. Das Bild hat sich mir eingebrannt, so wie der ganzen Welt. Die ist nun aufgerüttelt, das Bild ist Thema Nr. 1 in den Medien und natürlich schafft es die Blöd-Zeitung, das Niveau der Vermarktung auch hier noch zu senken. Als wären wir diesbezüglich nicht schon am Marianengraben angelangt. Nein, jetzt liefert dieses Mistblatt Nachschub, indem es über den Vater, die Familie berichtet. Alles natürlich aus hehren Zielen. Ich scheisse auf die Pressefreiheit und wische mir den Arsch mit dieser Zeitung ab.

 

Die Vermarktung des Leids bleibt der Community im Netz nicht unverborgen. Schnell wird diskutiert, inwiefern die Würde des kleinen Jungen verletzt wird, wenn man Fotos seiner Leiche ansieht oder gar verbreitet. Nicht wenige erheben sich über die Heulsusen, die so ergriffen dann doch nicht waren, als das es sie davon abgehalten hätte, möglichst theatralisch und nicht minder narzißtisch über ihre Betroffenheit zu reden, auf facy, damits auch jeder mitkriegt.

 

Und während all das passiert, bemerke ich: wir sind schon wieder nur mit uns selbst beschäftigt. Anstatt zu helfen, verbringt ein Teil unserer Gesellschaft seine Zeit damit, in Sensationsgier zu baden, der andere heuchelt Betroffenheit, ohne viel gegen dieses Elend zu tun und wieder ein anderer Teil verdammt eben diese Heuchler. Egal, auf welcher Seite man sich befindet, da geht es eigentlich nur um uns selbst.

 

Ich habe mich gefragt, wie scheissegal es einem Flüchtling ist, ob wir aus Mitleid, Selbstbeweihräucherung oder Kredibilität helfen, solange wir helfen. Wenn mit etwas Geld eine Unterkunft und Verpflegung für einen Flüchtling finanziert werden kann, ist es diesem letztlich scheissegal, ob der Spender es getan hat, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, seine Freunde auf facebook zu beeindrucken oder gar aus Versehen: Hauptsache, was zu essen und ein Dach über dem Kopf.

 

Ich war sauer auf T.K., dass er diese schrecklichen Bilder gepostet hat. Aber sie haben letztlich das Grauen nicht erzeugt. Sie haben es uns nur vor Augen geführt.

 

Und dennoch: ich ertrage es nicht und will es nicht sehen. Ich will mich aber auch nicht mit den Befindlichkeiten dieser Gesellschaft auseinandersetzen – also ob uns das Bild betroffen macht, ob es okay ist, wenn es das tut, ob es okay ist, das okay zu finden usw.

Stattdessen lege ich jedem ans Herz, etwas Geld zu spenden. Ich bin mir ziemlich sicher: das ist okay. Mag sein, dass es die historisch bedingten Probleme der 3. Welt nicht löst – jahrhundertelange Ausbeutung wird nicht mal eben so ausgeglichen.

Mag sein, dass wir damit nur unser Gewissen beruhigen wollen.

Mag sein, dass wir glauben, bessere Menschen dadurch zu werden, obwohl wir mit jedem billigen Produkt made in 3. Welt eben dieses Elend verursachen.

Mag sein, dass der eine oder andere davon erzählt oder es auf facebook postet.

Es ist egal. Hauptsache, wir tun etwas, weil es Leid vermindert.

Linksammlung Spenden für Flüchtlinge auf heute.de

Meine letzten Tage in einem freien Hort: die PIA-Praktikantin

J. macht ihre Ausbildung in unserer Krippe, ich arbeite seit 10 Jahren als Erzieher in unserem Hort. Sie fragt mich, ob ich mir vorstellen könnte, sie zwei mal die Woche nachmittags in ihrer Krippengruppe zu vertreten. Ihr 6-wöchiges Praktikum im Schülerhort hat ihr Spass gemacht, sie möchte gerne verlängern. Meine Chefin hat sie an mich verwiesen; fragen kann man ja mal.

Ich sage natürlich nein. Mir hat schon gestunken, dass ich sie insgesamt an 6 Tagen ihres Praktikums in der Krippe vertreten musste. Süffisant: erst, nachdem meine Kollegin Praktikum und Anleitung zugestimmt hatte, hatte man uns über diese Vertretung in Kenntnis gesetzt. Mein Nachhaken bei der Leitung half nichts. Ich musste tatsächlich in die Krippe, 6 Tage lang. Nach insgesamt 10 Jahren bei diesem Arbeitgeber wurde ich behandelt wie ein Tagelöhner. DU – GEHE – DA – ARBEITE – FRIEHSTICK – UND – SCHLAFWACHE – BEI – KLEINE. Denn schließlich muss der Personalschlüssel eingehalten werden. Ich fragte meine Chefin, wieso eine Unterbesetzung in Krippe ausgeglichen werden müsse und im Hort nicht – denn wenn ich in der Krippe bin, fehlt ja ebenso eine Fachkraft, dann aber im Hort. Und dann der Hammer: eine PIA-Praktikantin gilt als Fachkraft. Das zwar nur zu 25 %, aber im Moment der Anwesenheit als volle Stelle… es ist also einfach nur ein Tausch laut Stellenplan.

Der Hintergrund ist klar: es gibt eklatanten Fachkräftemangel und der wird durch die Einführung dieser unsäglichen Ausbildung ausgeglichen, auf dem Papier zumindest.

Nun ist also J.´s Praktikum vorbei und sie möchte gerne „verlängern“. Ich checks zuerst nicht, was das mit mir zu tun haben soll. Und außerdem ist das Praktikum ja auch vorbei. Doch dann, bei einem zufälligen zweiten Gespräch, verstehe ich es erst. J. will ihre PIA-Ausbildung an sich auf den Hort verlagern. Also nix Praktikum, sondern ihre Arbeit als „Fachkraft“. Es habe ihr gut gefallen bei uns (klar, sie hat sich den Arsch breitgesessen) und nun möchte sie 2 Tage die Woche mittags bei den Hortkindern sein, was hieße, ich müsste sie in der Krippe vertreten.

Ich atme langsam durch. J. ist also der Ansicht, sie könne meinen Job genauso gut machen wie ich nach 20 Jahren Berufserfahrung. Sie. Will. In. Den. Hort. Und. Ich. Soll. Weichen. Um dies zu bewerkstelligen, geht sie hinter meinem Rücken zu meiner Chefin und bietet ihr ihre Vorstellung von einem Erziehertausch-Deal an. Dass meine Chefin sie nicht selbst auf den Boden der Tatsachen runterholt, ist das eine. Danke Chef, damit zeigst du mir, wie wichtig dir meine Arbeit im Hort ist. Dass sie dem Hinweis, mich selbst zu fragen, auch noch folgt, steigert mein Entsetzen.

Selbst, wenn sie ein klasse Praktikum hingelegt hätte, wäre es ein starkes Stück gewesen, mit meiner Chefin über eine Versetzung meinerseits zu ihren Gunsten zu sprechen. Wars aber nicht. Es war eine schlechte 4. Ich war mit ihr und den Kindern im Freibad. Ganze zwei mal ist sie auch mal ans Becken gekommen, beide Male erst nach meiner freundlichen Aufforderung. Ich schätze ihren Arbeitseinsatz auf maximal 15 Minuten. Die gesamte andere Zeit saß sie am Platz, hat sich gesonnt oder in ihr Smartphone gestarrt. Und das verkauft mir meine Chefin also als „Fachkraft“. Wäre ich ihr Anleiter gewesen, hätte ich noch eine Handhabe gehabt. Aber durch die Klassifizierung als Fachkraft ist sie Gleiche unter Gleichen. Ich habe ihr nichts zu sagen.

Ich weiß nicht, was sich die Damen und Herren Politiker gedacht haben, als sie diese Ausbildung auf den Weg gebracht haben. Dieser Praktikantin jedenfalls mangelt es an den rudimentärsten Kernkompetenzen. Keine Motivation, keine Ideen, kein Pfiff, kaum Mitarbeit, und wenn, dann nur nach Aufforderung. Und das Schlimmste: sie glaubt, sie wäre auf meiner Stufe und könnte mich ersetzen und das, indem sie mich hintergeht und mit meiner Chefin spricht, bevor sie mich überhaupt fragt.

Entsetzend auch ihre fachliche Begründung für den Tausch.

Ich frage lapidar, was ich in der Krippe solle. Sie: du hast Kinder und weisst besser, wie man mit Kleinen umgeht.

Es folgt mein Versuch, ihr den Unterschied zwischen persönlicher Vaterschaft und beruflichem erzieherischen Handeln zu erklären. Allein, es fruchtet nicht. Ihr ist überhaupt nicht klar, wo der Unterschied ist. Vielleicht hätte ich es ihr an einem anderen Berufsfeld erklären sollen. Ist der technisch begabte Kumpel meines Nachbarn auf der Stufe eines Kfz-Mechanikers, nur weil er hin und wieder (schwarz) dessen Auto repariert? Hätte jemand all jenen Klein- und Kleinstanlegern beim Börsenboom vor 17 Jahren sein Gespartes anvertraut? Ist man Koch, wenn man ein paar echt leckere Sachen zaubern kann, oder muss der Profi-Koch auch noch andere Dinge können wie z.B. gut, in großen Mengen und wenn möglich günstig einkaufen können – Arbeitsabläufe und Personal koordinieren, intensiv beobachten, was andere so tun und neue, unbekannte Aromen suchen und in seine Küche einbinden können? Und vor allem: dürfen es sich diese Leute leisten, je nach Lust zu arbeiten oder müssen sie eine bestimmte Leistung in einer bestimmten Zeit erbringen?

Vielleicht hätte sie es dann kapiert. Hat sie aber nicht. Ich bin Vater und deshalb gehöre ich in die Krippe, Punkt.

OK, ich hatte in meiner Laufbahn schon etliche Praktikanten, teilweise auch schlechte, unprofessionelle. Damit muss man rechnen und das muss man ertragen, auch wenn man selbst nicht der Anleiter ist (und somit keinerlei Handhabe hat, solchen Leuten die richtigen Impulse zu geben). Das bringt mich nicht mehr durcheinander. Etwas anderes regt mich tierisch auf:

dadurch, dass PIA-Auszubildende gleichzeitig als Fachkraft gelten, nehmen Arbeitgeber, die ständig pleite sind (wie der meine), die Möglichkeit, zu billigen Arbeitskräften zu kommen, nur allzu gerne wahr. J. ist kein Einzelfall – J. ist Programm.

Es ist egal, ob ich mit so einer Pfeife arbeiten will oder nicht, mein Arbeitgeber will es. Es ist egal, ob ich es (nach 10-jähriger Betriebszugehörigkeit) als Degradierung auf die Stufe eines Tagelöhners empfinde, von einem Tag auf den anderen von meinem angestammten Arbeitsplatz an einen anderen versetzt zu werden, mein Arbeitgeber nimmt es in Kauf. Und dann habe ich das zu akzeptieren.

Denn die PIA-Praktikantin ist eine billige Arbeitskraft. Das heisst nicht immer, dass es auch eine schlechte Arbeitskraft sein muss, weiß ich. Aber oft genug ist es eben doch nur B-Ware, die da angespült kommt, nur dass sie von Arbeitgeber dann auch noch als A-Ware eingesetzt wird.

Ich bin immer noch entsetzt. Nicht mal so besonders vom Verhalten meines Arbeitgebers. Den werde ich wegen all dieser Verfehlungen demnächst verlassen. Nein, ich bin geschockt über die Eigenwahrnehmung dieser Praktikantin, die sich offensichtlich für mindestens genauso gut hält wie mich und die meine Versetzung damit begründet, dass ich Kinder im Krippenalter habe – und auch noch die Frechheit besitzt, mir das auch genauso zu sagen. Die sitzt mir gegenüber und plaudert locker darüber, das sie meine Versetzung für berechtigt gehalten hätte. Ich bin sauer über die Demontage des Erzieherberufs, denn nichts anderes ist es, wenn man Auszubildende auf die Stufe von Ausgebildeten stellt.

Mir ist dann irgendwann der Faden gerissen. Ich habe es ihr dann so erklärt:

du weisst doch gar nicht, ob ich meine Kinder schlage oder vergewaltige. Deiner Logik nach bin ich dann aber trotzdem geeignet als Krippenerzieher, denn ich habe ja Kinder im Krippenalter.

Danach hat sie dann doch einen Moment lang überlegt. Vielleicht besteht doch ein Unterschied zwischen privatem und professionellem erzieherischen Handeln…

Keine Angst vor Autos

Hamburger SV - SV Werder BremenDas nennt man im Arbeitsjargon dann wohl … Durchsetzungsvermögen (vgl. Interview mit Daniel Illmer).

Dass der Profisport immer weiter kommerzialisiert wird, liegt in seiner Natur. Aber muss das auch beim Freizeitsport sein?

Jedes mal, wenn ich bei einem Spaziergang im Park in den Kondensstreifen eines 15 cm an mir vorbeirasenden Freizeit-Ullrichs eingesogen werde, frage ich mich das. Ich frage mich, was wohl passieren würde, wenn ich einem Käfer / Glassplitter / Kackhaufen ausweichen müsste, so ganz plötzlich. Soll bei Spaziergängen ja durchaus vorkommen. Wenn ich also einem dieser Kamikaze-Fahrer in die Bahn springen würde. Meine Freunde auf zwei Rädern haben inzwischen locker die Fahrt eines Stadtautos auf dem Tacho, welcher natürlich alle Daten live auf runtastic hochlädt. Ein Zusammenprall bei dieser Geschwindigkeit ist in der Lage, so ziemlich jeden Knochen zu brechen, den ein Mensch zu bieten hat. Inzwischen habe ich bei meinen Kindern weniger Angst vor den Autos, denn die sind auf der Straße. Die Sport-Radfahrer hingegen sind direkt neben mir, auf dem Gehweg, ohne trennenden Bordstein.

Nun ja, dieser persönliche Ärger ist das eine. Das Andere ist der Zusammenhang, in dem die Rationalisierung des Freizeitsports steht. Nein, ich habe nichts gegen Sport, ich habe nichts gegen Leistung, ich habe nichts gegen den Willen zum Sieg. Jahrelang habe ich Fußball gespielt und alles gegeben, und wenn jemand faul rumgestanden ist, habe ich die Klappe aufgerissen. Aber Motor war immer letztlich der Spass an der Sache im Wissen darum, dass es ein Spiel ist. Man sollte sich nach dem Spiel noch die Hand geben können. Einer, der Blutgrätschen verteilt, bekommt von mir nicht die Hand. Es gibt Grenzen. Und komme mir jetzt keiner mit Mädchen-Fussball. Meiner Erfahrung nach hat sich der Spass an der Sache immer ausgezahlt. Wer glaubt, faires Spiel sei unproduktiv, lebt im Mittelalter. Die wahren Loser waren eigentlich immer jene, die gefoult haben und viel über Leistung geredet, aber umso weniger Leistung gebracht. Nur ist sie nicht auszurotten, die vor allem verbale Leistungskultur im Sport, und sie scheint immer mehr Zuwachs zu bekommen: die Labersäcke auf dem Feld tragen kein Kondom, so sehr vermehren sie sich.

Und nun lese ich in einem Interview auf heute.de, welch beredte Sprache die sportliche Betätigung doch über unseren wahren Charakter spricht. Ein Sportwissenschaftler schmeisst sein anstudiertes Wissen den Imperativen des Arbeitsmarktes vor die Füße und interpretiert Kompetenzen des Organisierens, des Haushaltens, der Kommunikation, ja sogar Führungsqualitäten in die freizeitliche Sport-Betätigung hinein.

Das mag ja sogar stimmen, aber ist es nicht schade, dass Sport ausschliesslich deshalb gut sein soll, weil er dem Zweck der Produktivität dient? Darf man Sport auch aus Spass an der Freud´ machen? Und ist man dann automatisch ein schlechter Sportler? Sorry, aber ich glaube, Sport-Genies wie Maradona oder Pelé waren letztlich so gut, weil sie immer auch Spass an der Sache hatten. Das kapiert aber so ein minderbemittelter mittelmäßiger BWL-Sportler nicht. Für den ist Sport gut, wenn er ihn zählen kann. Und wenn es eine Qual ist, ihn auszuüben. Also vor allem muss er langweilig sein, denn nur dann ist er gut, ganz so wie Arbeit. Kunst ist brotlos, klar.

Wenn das nun jemand für kleinlich hält, erinnere ich daran, dass aus diesem positiven Nebeneffekt schnell eine Bedingung werden kann. So etwa:“Oh, du spielst Fussball / fährst Rad / springst Seil? und? Wieviel Kalorien am Tag?“.

Wovon träumen Lehrer nachts?

penn

Da haben wirs mal wieder:

die Jugend von heute ist total daneben. Weil: die Handschrift wird immer schlimmer. Das will eine Studie des Schreibmotorik-Instituts herausgefunden haben. Mich wundert das kaum, denn befragt wurden ausschliesslich Lehrer und diese waren überwiegend der Meinung, dass die Handschrift hierzulande den Bach runtergeht.

Ich hätte dem Institut diese Information für einen Bruchteil des Geldes geben können, denn wie alle anderen Ex-Schüler weiss ich: Lehrer sehen seit Jahrhunderten den Verfall der Gesellschaft an ihren Schützlingen. Sie bewerten, selektieren, bestrafen sie, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Da frage ich mich, warum sie dann Lehrer werden, wenn sie die Empfänger ihrer Dienstleistung verachten?

Ach so, natürlich wird noch ein Experte befragt: Josef Kraus, Vorsitzender der deutschen Lehrerverbandes, sieht die Gründe natürlich in der Familie. Dort solle man „Kritzeln, Malen, Kneten, Basteln“, um das Schreiben schon mal vorzubereiten. Selbst, wenn dadurch tatsächlich etwas getan werden könnte, dann frage ich, warum ausgerechnet durch die Familie?

Ach ja, klar: weil man dann auf den großen Unbekannten eindreschen kann. In „Familien“ müsse mehr gemacht werden. Weder ist klar, wer gemeint ist, noch, wie man den Arbeitsauftrag kontrollieren könnte, aber man kann seinem Unmut freien Lauf lassen.

Und zu allem Überfluss wird Lehrer Kraus am Ende dann noch als Pädagoge betitelt. Also es gibt Pädagogen, Sozialpädagogen, Therapeuten, Sozialarbeiter usw., aber der Schulmeister ist für heute.de ein Pädagoge. Manchmal kann man nur noch verzweifeln. Aber wenigstens verstehe ich jetzt wenigstens, wieso genau so ein Schulmeister (Bernhard Bueb) es mit einer „Streitschrift“ an die Spitze der Bestseller-Liste geschafft hat.

Wenn dauernd nach mehr instituionalisierter Bildung gerufen wird, kann nicht gleichzeitig nach mehr Arbeit in der Familie gerufen werden. Eltern sollen nach Arbeit, Haushalt, Hausaufgabenbetreuung, Erziehung und Pflege auch noch Knet-Aufträge aus der Schule bewerkstelligen? Ich dachte immer, die Schüler pennen in der Schule, aber offensichtlich sind es die Lehrer, die träumen.

Abschliessend noch das da, direkt aus dem Artikel auf heute.de:

heute01Ohne Worte.

[Update 11.30 Uhr:]

Stunden danach ist der Fehler immer noch nicht verbessert. Ist ja auch egal, eigentlich kümmerts mich nicht. Sieht halt nur seltsam aus, wenn die Jugend von heute in schlechtem Deutsch schlechtgeredet wird.

heute.de macht Werbung für die Games-Industrie im Namen der Justiz

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heute.de: mit Cyber-Brillen Verbrechen aufklären

Meine Güte, das ist nur mehr peinlich. Die Computerspiele-Industrie macht sowieso schon einen Hype um diese Brille, die letztendlich nichts anderes tut, als die seit Jahrzehnten bekannte 3D-Technik a) per Brille ganz nahe an den Kopf zu bringen und b) diese Brille als Blickwinkel-Steuerung zu nutzen. Also Dein Kopf als Joystick mit Bildschirm sozusagen.

Wenn dann die Gamer-Kids aus dem Häuschen sind, ist das nichts Besonderes. Es gibt so eine Zeitspanne im Leben, die junge Burschen nach dem ersten Samenerguß zunächst befriedigt, aber mit offenen Fragen hinterlässt: ich kann Sex machen, aber wie mache ich den jetzt mit einer Frau? Da die Antwort auf diese Frage nicht so leicht gefunden werden kann, entsteht natürlich eine Menge Frust, und der wird in besonders harten Fällen ausschliesslich mit Computerspielen kompensiert. Da eröffnet so eine Virtual-Reality-Brille natürlich ganz neue Möglichkeiten.

Nichts Weltbewegendes also: da wird nun zum tausendsten Mal versucht, die nächste Killer-Hardware an den Mann zu bringen. Kennen wir alles schon. Gähn.

Doch wenn dann die heute-Sendung auf diesen Hype aufspringt, frage ich mich, warum dieses Nachrichtenformat staatlich gefördert wird. Es ist ja schon offensichtlich peinlich, wenn die Uni Zürich versucht, der Gamer-Hardware einen seriösen Anstrich zu verpassen. Dass sich aber ein staatlich gefördertes Medium zum verlängerten Arm der Industrie macht und die hanebüchen formulierte Werbung 1:1 übernimmt, geht einfach mal gar nicht.

Keine Fragen dazu, wer die Uni Zürich in dieser Sache finanziert. Keine Fragen zur Praktikabilität. Keine Fragen zu technischer Manipulierbarkeit. Aber was das Wichtigste ist: keine Frage nach dem großen Vorteil. Welchen Unterschied macht es denn nun, ob ich diese Brille aufhabe oder ob ich auf einen Bildschirm schaue? Das ist doch völlig wurscht. Diese Brille mag in Spielen einen Kick bringen, weil sie das Geschehen näher bringt und eine gewisse Intuitivität in die Steuerung bringt. Aber ein Richter hat ja kein Spielziel in einem Verfahren, auch braucht er keinen Kick, im Gegenteil: er soll so sachlich wie irgend möglich die Faktenlage beurteilen.

Doch nichts davon bei heute.de. Schlimm, sowas.

Charlie Hebdo – ce ne est pas ma guerre!

Herr Braybrook, in Paris wurden 12 Menschen bei einem Terror-Anschlag auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ getötet…

Ermordet.

…richtig: ermordet. Inwiefern hat das ihre Meinung zum Umgang mit dem Islam verändert?

Wir müssen verstärkt den Dialog suchen.

Wie bitte? Meinen Sie nicht, es wäre an der Zeit, genau diese weiche Strategie zu überdenken? Sie reden doch selbst von Mord.

Das waren Einzeltäter, die nicht im Namen des Islam gehandelt haben.

Diese Ausrede hört man bei jedem Terrorakt mit islamistischem Hintergrund. Kann man angesichts von tausenden von Toten noch von Einzeltätern sprechen?

Die Zahl der Opfer beweist, dass es hier um ein personenübergreifendes Phänomen geht. Ob dieses Phänomen ein typisch muslimisches Phänomen ist, halte ich für keinesfalls bewiesen. Man kann die Berufung der Täter auf den Islam nicht als Beweis dafür hernehmen, dass der Islam Menschen zu Mördern macht. Schliesslich beruft sich die deutliche Mehrheit der friedlichen Moslems ebenfalls auf den Islam.

Man kann aber sagen, dass der Islam offenbar missverstanden wird von einigen.

Weil er dazu prädestiniert ist. Wo „tötet die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie trefft“ steht, kann kein Frieden entstehen.

Derartige Dinge stehen auch in der Bibel. Warum findet keine Diskussion darüber statt?

Weil die Zeiten, in denen im Namen des Christentums gemordet wurde, längst vorbei sind. Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft. Niemand streitet ab, dass es vor der Säkularisierung Mord und Totschlag im Namen des Christentums gegeben hat.

Das beweist doch nur, dass es nicht wirklich um Religion geht, sondern um politische-gesellschaftliche Umstände, die die selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen ausnutzen und manipulieren. Seitdem die Kirche keinen weltlichen Einfluss hat, gibt es keine Kreuzzüge und Hexenverbrennungen mehr, dennoch ist es immer noch die gleiche Bibel, auf die sich das Christentum beruft. Eine tolerante Gesellschaft ist das Ergebnis vieler wackliger Faktoren und die Säkularisierung allein ist keinerlei Garant dafür, danken Sie an die NS-Diktatur. Die entstand Jahrhunderte nach Aufklärung und Säkularisierung.

Es gibt das Christentum heute und das Christentum im Mittelalter, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dennoch, beide berufen sich auf das Evangelium. Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem Kreuzritter und einem islamistischen Terroristen. Beide führen / führten ihrer Meinung nach einen heiligen Krieg.

Und deshalb gehören beide bekämpft.

Genau das ist der Unterschied. Wir werden islamische Staaten nicht von außen säkularisieren. Wodurch auch? Durch Krieg? Durch Aufklärung? facebook anybody? Glauben Sie, die haben keine eigene Philosophie, keine eigene Wissenschaft, keine Exegese des Koran?

Der erste Schritt könnte ein anderer sein: bevor wir die islamische Welt befreien, müssen wir uns erst einmal selbst schützen.

Wie kann man sich davor schützen, dass Menschen durchknallen? In den Ländern, die Terror-Organisationen beherbergen, herrschte lange Krieg, teilweise heute noch.  Welches Wundermittel haben Sie, um diese Leute davor zu bewahren, sich zu radikalisieren? Der Krieg bringt die niedrigsten Überlebensinstinkte im Menschen zum Vorschein. Das hat mit Vernunft, Mündigkeit und Intelligenz nichts mehr zu tun. Wer alles verliert und um sein Leben bangen muss, ist Argumenten nicht mehr zugänglich.

Stopp mal. Inwiefern ist die satirische Arbeit von Charlie Hebdo eine Gefahr für die Existenz der Killer von Paris gewesen? Was haben diese Islamisten durch Charlie Hebdo verloren?

Um es ganz klar zu sagen: es gibt keinerlei Legitimation für den Terrorakt in Paris. Ich halte es aber für entscheidend, klug zu analysieren. Um der eigenen Sicherheit willen, aber auch, um gerade jene Werte zu bewahren, die hier angeblich angegriffen worden sind.

Das heisst, neben der berechtigten Trauer, diese emotionale Welle nicht sich selbst zu überlassen. Die AfD, Pegida und die üblichen Verdächtigen aus der rechten Szene werden sonst auf dieser Welle reiten und sie für ihre Zwecke ausnutzen. Es hat bereits begonnen.

Vielleicht haben Pegida und AfD zumindest teilweise recht?

Nein, haben sie nicht, und schon gar nicht durch die Morde von Paris. Was die jetzt daherlabern, klingt ja fast schon nach Freude.

Inwiefern, frage ich, stellen die Morde einen Anschlag auf unsere Redefreiheit dar? Es wird keine Gesetzesänderung zur Meinungsfreiheit geben, und schon gar nicht, was Religions-Satire angeht. Das war den Tätern auch klar. Glauben Sie, die hatten vor, eine Gesetzesänderung zur Meinungsfreiheit zu initiieren? Es war viel eher ein Mittel, Angst zu verbreiten und selbst da dürfte den Mördern klar sein, dass sie niemanden zum Schweigen bringen. Es ging um das für radikalisierte Menschen typische „wir gegen die„, um blinde Wut, ausgelöst durch Verletzung religiöser Gefühle.

Und da wird doch schon klar, wo der Fehler ist, den wir nicht übernehmen sollten: „wir“ würde ja bedeuten, dass die Mörder von Paris für „die Moslems“ sprechen, denn zu Allah beten sie alle. Jedoch lehnt die überwältigende Mehrheit der Moslems diesen Terrorakt ab und toleriert – wenn sicher auch nicht mit Wohlgefallen – die Satire bzgl. ihrer Religion. Somit streichen wir schon mal „wir“.

„die“ – das impliziert, dass die Gegenseite, also der Westen geschlossen auf der anderen Seite stünden. Das ist aber nicht so. Es gibt sehr viele Nicht-Muslime, die die religiöse Satire ebenfalls inhaltlich ablehnen, auch wenn sie sie als Teil der Meinungsfreiheit tolerieren. „Wir gegen die“ – würde aber das genaue Gegenteil bedeuten: dass wir alle den Islam auslachen – NICHT: tolerieren, dass andere ihn auslachen. Das ist ein entscheidender Unterschied. Dieser zugeschriebenen Gleichsetzung beuge ich mich nicht. Ich würde nicht auf die Idee kommen, etwas, das den Moslems heilig ist, auszulachen, schon gar nicht öffentlich.

Weil sie Angst haben?

Nein, sonst wäre ich für ein Verbot dieser Satire aus Sicherheitsgründen. Das bin ich aber nicht. Nur heißt Toleranz noch lange nicht inhaltliche Unterstützung. Angst habe ich nun davor, dass genau dieser Gedanke missverstanden wird, dass jeder, der in Zukunft Mißfallen über religiöse Satire äußert, als Sympathisant des Terrorismus gesehen wird. Angst habe ich auch vor einem Zulauf bei den Rechten. Das, was Gesellschaften radikalisiert, ist der Verlust des Blicks auf den Einzelnen. Es gibt kein „ich“, es gibt nur noch die große Idee, das „wir“. Vielleicht reduziert man einen Radikalisierungs-Test in Zukunft auf eine Frage: lachst Du über Allah oder nicht? Und wenn dann einer sagt: nein, ich finde, darüber sollte man nicht lachen, gilt er als radikal.

Das klingt alles sehr kompliziert. Es ist doch eine leider ganz einfache Sache: da wurden Menschen umgebracht, weil sie der Meinung der Täter nach Dinge publiziert haben, die denen nicht gepasst haben. Was gibts denn da noch zu verkomplizieren? Einfache Frage, imaginäre Situation: hielten Sie es für anständig, all diese Gedanken auf der Trauerfeier für die Opfer von Paris zu äußern?

Nein, das würde ich nicht tun. Ich würde sagen, dass es keinerlei Legitimation für diesen verbrecherischen Akt gibt. Gleichzeitig würde ich aber ablehnen, aus Solidarität nun Anti-Islam-Cartoons von Charlie Hegda auf Plakaten zu tragen. Denn damit würde ich die vielen Moslems in ihren religiösen Gefühlen verletzen, die nichts mit den Mördern von Paris gemeinsam haben. Und genau dieses Gefühl habe ich im Moment. ZDF-Chefredakteur Peter Frey schreibt heute in seinem Kommentar „Der Anschlag von Paris ist ein Angriff auf uns alle, er zielt in das Herz einer freien Gesellschaft. „. Sorry, nein, das ist nicht der Fall. Charlie Hebda ist nicht das Herz einer freien Gesellschaft. Es ist eine extreme Erscheinungsform von Meinungsfreiheit, die sich zwar noch in deren Rahmen bewegt, zu der ich mich aber distanzieren darf. Wenige Verbrecher konnten diese Erscheinungsform nicht tolerieren und haben nun die Grundsatzdiskussion ausgelöst, inwiefern auch religiöse Satire zur Meinungsfreiheit gehört.

Ich sage ganz klar: natürlich tut sie das. Aus politischer, gesellschaftlicher Sicht, weil die Meinunsfreiheit ein zu erhaltendes Recht ist. Aber ich darf mich ebenso auf dieses Recht berufen und mein Mißfallen über derartige Satire äußern. Ich habe kein Problem damit, wenn manche Leute das lustig finden. Nur ich, ich finde es nicht lustig und weigere mich, mir von Peter Frey vorschreiben zu lassen, wo ich Charlie Hegda verorte. Ganz sicher nicht in meinem Herzen. Meinungsfreiheit heisst: innerhalb eines Rahmes darf alles gesagt werden. Es bedeutet nicht, dass jeder alles, was gesagt wird, auch gut finden muss.

Herr Braybrook, das sind schwierige Zeiten. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie sagen und lassen Vorsicht walten.

Ich hoffe das für uns alle. Angesichts mancher Kommentare aus der Pegida-Fraktion stelle ich mir die Frage, ob auschliesslich Trauer über die Morde in Paris besteht oder evtl. auch klammheimliche Freude. Ich hoffe, dass unsere westliche Gesellschaft in der Lage sein wird, humanistisch zu reagieren und das heisst: vernunftsbezogen, rational und mit der gegebenen Überlegung. Was ich in der Presse lese, beunruhigt mich: ich lese Dinge wie „Killer„, „Kriegserklärung an die ganze Welt„, „Massaker“ (ich verlinke Bild grundsätzlich nicht und eigentlich kann man die auch nicht ernstnehmen. Jedoch sprach heute.de gestern ebenfalls noch von einem Massaker, inzwischen ist diese Überschrift nicht mehr zu finden) – muss das weiter eskalieren? Reichen Begriffe wie „Mord“, „Terror“ und „Anschlag“ nicht aus? Die Welt schreibt, der Anschlag auf Charlie Hebdo habe einer Redaktion gegolten, die bis zum Letzten entschlossen gewesen sei, die Freiheit aller Denkenden jederzeit zu verteidigen. Das ist ein übler kriegerischer Jargon, der Leute zu Märtyrern stilisiert. Das ist aber falsch. Das geht zu weit. Die Redakteure von Charlie Hebdo wären im Leben niemals bereit gewesen, auf diese Weise für ihre Arbeit zu sterben. Da wird eine Situation konstruiert, die es so nicht gegeben hat.

Der Ausspruch: „je suis Charlie Hebdo“ trifft auf mich insofern zu, dass auch ich das Recht haben will, eine Satire wie jene zu äußern. Aber ich lese jetzt bereits seitens AfD und Pegida-Anhängern /-Sympathisanten, dass wir alle uns zusammen wehren müssten gegen den Islam. Das ist dann die Bejahung des „wir gegen euch“, sozusagen die gegenseitige Kriegserklärung. Ich glaube, dass das nicht der richtige Weg ist, mit Terror, Islamismus und Pegida umzugehen. Es ist Zeit, dass die schweigende Mehrheit sowohl Terroristen als auch Nationalisten gegenüber Stellung bezieht, die Gesellschaft für sich vereinnahmt. Das ist unsere Freiheit, nicht die Freiheit Pegidas. Und Gott, das ist unser Gott, nicht der Gott al-quaidas. Gott hat nichts mit Krieg zu tun.

Sie fragen mich nach einem Weg? Es gibt einen anderen Weg: „ce ne pas ma guerre“!

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