Na, wunderbar: Sarrazin übersteht auch das zweite SPD-Ausschlußverfahren. Wie heißt es so schön? – was nicht tötet, härtet ab. Will sagen: es ist für die SPD OK, wenn ein in der Öffentlichkeit stehendes SPD-Mitglied von einer „Eroberung Deutschlands“ durch „die Türken“ spricht. Da jede gebilligte Äußerung des zentralen Mitgliedes einer Organisation auch deren Meinung repräsentiert, heißt das übersetzt: ja, die SPD spricht ebenfalls von einer Eroberung Deutschlands durch die Türken.
Zwar tut man ein wenig verschämt und meint, Sarrazin solle sich ein wenig zurückhalten. Wörtlich heißt es in o.g. Artikel der Tagesschau: „Er werde künftig bei öffentlichen Veranstaltungen darauf achten, durch Diskussionsbeiträge nicht sein Bekenntnis zu den sozialdemokratischen Grundsätzen in Frage zu stellen oder in Frage stellen zu lassen.“
Aber somit ermöglicht man Sarrazin auch noch eine Form der Rahabilitation, in der er seine „Diskussionsbeiträge“ als gar nicht von den Grundsätzen der Sozialdemokratie verschieden konstatieren darf, denn Sarrazins Bekenntnis wird ja nur in Frage gestellt, nicht als unvereinbar benannt.
Da frag ich mich, wie man denn noch weiter entfernt von der Sozialdemokratie argumentieren kann, als mit dieser Aussage:
„Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“
Er spricht von seinen Äußerungen als „sein Bekenntnis zu den sozialdemokratischen Grundsätzen in Frage“ stellend bzw. stellen lassend. D.h., er ist sich offenbar sicher, einerseits Sozialdemokrat zu sein und andererseits derart fremdenfeindliches und rassistisches Gedankengut verbreiten zu können, was dann jeder Schmalspur-Nationalist auf dem Dorf nachplappern kann, ohne sich als solcher fühlen zu müssen, denn: hey, wenn ein führender SPD-Politiker das tut, ist es ja kein nationalistisches Gedankengut. Das dürfte die SPD für die Wähler am rechten Rand attraktiv machen. Schwach von der SPD.
Herr Sarrazin scheint vergessen zu haben, daß es zehntausende, ja hunderttausende von Deutschen gegeben hat, die sich im Laufe vergangener Jahrhunderte in anderen Ländern aus wirtschaftlichen Gründen angesiedelt hatten und die dort selbstverständlich ihre eigene Sprache und Kultur – bis heute! – bewahrt haben. Weder wurde dies unproblematisch angesehen, noch war es das. Von daher könnte man sogar fast soziologisch wertfrei feststellen, daß es Migration immer gegeben hat und geben wird und diese nie unproblematisch verlaufen ist bzw. verläuft. Man könnte also Migration vielleicht nicht als etwas Unproblematisches, aber als etwas als etwas Normales ansehen – ein Phänomen also, das nichts mit Genen oder Religionen, sondern mit soziologischen, wirtschaftlichen und politischen, vor allem aber wissenschaftlich erfaßbaren Faktoren zu tun hat. Damit wäre der erste Schritt für eine Deeskalation des gesellschaftlichen Diskurses gegeben. So ist es aber nicht, es ist anders.
Was die neuen Nationalisten und deren ernannter Protagonist Sarrazin anders tun ist besonders perfide:
die Rede ist von der „Nazi-Keule“, sobald man auf die Frage von Rassismus und Nationalismus zu sprechen kommt. D.h., die neuen Nationalisten würgen jegliche Diskussion um die Fragwürdigkeit ihrer Aussagen im Keim ab, denn sie unterstellen jedem, der Aussagen wie jene Sarrazins in Frage stellt, daß er unsachlich argumentiert, „die Probleme“ nicht sieht und womöglich einer Art (jüdischer, natürlich) Weltverschwörung gegen Deutschland angehört. Sie werten also Migration von vornherein negativ, da problembehaftet, und zwar u.a. aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse. Somit ist jeder Einwanderer von vornherein nicht integriert und je nach Grad seiner Deutschkenntnisse integrationsunfähig. Weiter ist jegliches Nachhaken bei dieser fragewürdigen Argumentation eine „Nazi-Keule“ – d.h. es wird einem von Beginn an Unsachlickeit unterstellt, wenn man über die Gefahr des Nationalismus diskutiert.
So hatte ich kürzlich eine Diskussion um das Gewicht nationaler Identität im Rahmen der Europäisierung. Dabei vertrat ich die Meinung, der psychologische, personelle Begriff „Identität“ sei auf Gruppen nicht 1:1 übertragbar, auch, wenn das Konstrukt „nationale Identität“ durchaus seine Wirkung entfalte (wie alle Konstrukte).
Die Antwort war, daß es schade sei, daß man in Deutschland nicht über nationale Identität reden könne, da „wir Deutschen“ ja einen Komplex hätten – ich nehme an, damit war gemeint, daß Deutschland nach dem Nationalsozialismus besonders im Fokus der Weltöffentlichkeit stehe und angesichts des millionenfachen Mordes an Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen, Andersdenkenden, Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung usw. Aussagen bzgl. nationaler Unterschiede besonders aufmerksam verfolgt werden.
Ich frage mich immer noch, wie meine Diskussionspartnerin überhaupt auf die Idee gekommen ist, daß ich von Deutschland geredet habe?
JEDE Gesellschaft sieht sich mit Begriffen wie „nationale Identität“, „Nation“, „Kultur“ usw. konfrontiert und selbstverständlich ist ein großer Teil davon ein wirksames Konstrukt, das auch in negativer Weise (Nationalismus) wuchern kann. Wie egozentrisch und voller Selbstmitleid kann man eigentlich sein, daß man meint, als Deutscher nicht über Nationalismus reden zu müssen?
Man muß es selbstverständlich, denn die Franzosen, die Iren, die Italiener oder die Polen müssen es auch. Da kann der Herr Sarrazin noch tausendfach klagen – er, seine Anhänger und das ganze Deutschland muß sich fragen, wie es die Anforderung der Realität „Einwanderungsland“ bewältigt. Aber wenn man a priori davon ausgeht, daß das gar nicht möglich ist, weil man eine determinierte Nationalität hat und diese nicht vereinbar ist mit der Nationalität anderer, kann man nur noch die Grenzen dicht machen. Dann braucht man aber auch keinen Handel mehr mit anderen zu treiben. Und das Internet muß man dann auch abschalten, denn das ist ebenfalls international. Gleiches gilt für den Urlaub und fremdes Essen. Und selbstverständlich auch für ausländische Namen, Herr Sarrazin.
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