Wieder einmal geschäftlich mit der Bahn unterwegs, ist mir diesen Freitag folgendes passiert:
Ich sitze auf einem nicht reservierten Platz in einem fast leeren Abteil mit 7 oder 8 Personen. Die Tür geht auf, ein altes Ehepaar kommt rein. Sie bleiben auf meiner Höhe stehen und ich höre den Mann sagen:“ Junger Mann, Sie sind hier falsch!“. Aha, denke ich, hat die Bahn mal wieder die Reservierungsanzeige nicht eingeschaltet. Kommt immer wieder vor und sorgt bei Menschen, die öfter Bahn fahren, nicht mal mehr für ein müdes Gähnen. Sind genügend Plätze frei, setzt sich der Mensch mit der Reservierung eben woanders hin und kündigt an, bei Bedarf den Platz einzufordern. Sind von Anfang an wenig oder keine Plätze frei, räumt man eben sofort, klar. Ein schönes Beispiel dafür, daß man alles regeln kann, ohne alle Regeln befolgen zu müssen. Man muß halt nur mit den Leuten reden. Keiner fragt danach, die Reservierung einsehen zu können – wer hier bescheißt, bescheißt sich doch irgendwie selber.
Ich sage sowas wie:“Oh, natürlich!“ und räume den Platz. Beim Aufstehen weise ich darauf hin, daß die Anzeige nichts anzeigt, so daß das Ehepaar versteht, daß ich zufällig und unwissend auf deren Platz gesessen bin. Plötzlich höre ich ein barsches „KOPF WEG!“ und in letzter Sekunde kann ich meinen Kopf aus der Gefahrenzone bringen – der Mann reißt seinen Hartplastikkoffer hoch, um ihn auf die Ablage über dem Sitzplatz zu hieven. Das war ziemlich knapp.
Im ersten Moment bin ich etwas fassungslos, dann stammele ich etwas wie: „Also, Sie müssen mich schon noch wenigstens mein Zeug zusammenpacken lassen…“. Nix. Keine Reaktion, das Ehepaar ist mit dem Bezug des neuen Reviers beschäftigt. Mein Ex-Vordersitzer, der das alles mitbekommen hat, bietet mir aufmunternd seinen Nebenplatz an, aber irgendwie habe ich den Impuls, hier zu verschwinden und lehne dankend ab.
Nachdem ich ein paar Meter weiter vorne meinen Krempel auf einem der zahlreichen Plätze verstaut habe, sitze ich nun in Gegenfahrtrichtung. Und da glaube ich nicht ganz, meinen Augen zu trauen. Das Ehepaar sitzt gar nicht mehr da, wo es mich vertrieben hat, sondern vorne am Tisch und plegt, zu speisen. Die Jacken sind nach wie vor am reservierten (?) Platz.
Man hört ja immer so Sprüche von wegen der heutigen Jugend, die keinerlei Kultur habe und/oder unverschämt und/oder asozial sei.
Ich kann von diesem Paar (das übrigens recht elegant gekleidet war) nur sagen, daß alle drei Attribute zutreffen: diese zwei alten Menschen waren unkultiviert, unverschämt und letztlich asozial. Andere Menschen hätten sich auf einen der zig anderen freien Plätze gesetzt, aber das wollte ich ja gar nicht. Ich habe ja geräumt, und nach der Reservierung habe ich nicht gefragt. Zudem war die Anzeige kaputt, d.h. ich habe denen geglaubt, obwohl es zum guten Ton gehört, seine Reservierung vorzuzeigen. Es gab also überhaupt keinen Grund, den Platzhirsch zu markieren. Wenn aber jemand das tut – also ohne Not den Platzhirsch rauszuhängen – heißt das nichts anderes, als daß er das nötig hat und sich in dieser Rolle gefällt: Ellbogenmentalität in Rein-(un-)kultur.
Asoziales Pack. Man kann es nicht anders nennen. Junge Leute haben sich mir gegenüber nie so verhalten, im Gegenteil: sie sind immer felxibel, sei es als einen Platz Reservierender, sei es als einen reservierten Platz Besetzender. Ausgehend von diesem Erlebnis kann ich das Vorurteil gegenüber „der Jugend von heute“ nicht bestätigen.
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