Neujahr: scheiss auf die Regeln.

Gestern so gegen halb elf im Bett. Alle lieben Sekt. Ich finde, es geht so. Nach anderthalb Gläsern habe ich gemerkt: das Teufelszeug ist ausschließlich dazu da, mal schnell alles rauszuholen, was so in dir steckt, um dich dann fallenzulassen wie die vielbesungene heisse Kartoffel. Warum also das zweite Glas leer trinken?

Wiiiiie? Du hast Sylvester nicht gefeiert?

Ja, muss ich denn? Welches Gesetz besagt das? Ach so, das ungeschriebene.

Und müde war ich auch.

Das vodafone-Empfangsgerät auf 3Sat geschaltet und die Aufnahmefunktion auf Kasabian und Iron Maiden programmiert, nachdem ich mir Queen, A-HA und Shakira so nebenbei angesehen hatte. Licht aus, Augen zu.

Da kann man schon mal eben so gegen 7.30 Uhr aufstehen. Eine gute Stunde später laufe ich durch eine Stadt und habe das Gefühl, es sei Nacht, nur dass es hell ist.

20130101_091713

Sehen Sie? Sie sehen nichts.

Das einzige, was hier lebt, sind die Ampeln. Selbst Starbucks hat gerade mal eben zwischen 11 und 18 Uhr auf. Ich kann auf die ganz gut verzichten, aber leider muss ich gestehen: die machen einen ganz guten Job damit, ihre Identität als Kette zu verstecken. So, wie es für Jugendliche eine inoffizielle Norm ist, bei Starbucks eine Latte zu bekommen, ist es für die andere Seite das Gegenteil:

WAS? DU GEHST ZU STARBUCKS?

Na und? Ich scheiß drauf. Wenn ich Bock habe, esse ich sogar bei Burger King.

Aber natürlich frage ich mich grundsätzlich schon, wo das Problem ist, sich ein gutes Café zu suchen, das eben nicht Starfucks ist.

Denk nicht so viel nach F. Es ist vielleicht einfach nur Kaffee trinken und Szene.

20130101_093009

Hinter mir läuft ein Mann mit schwarzem Mantel. Sieht nach Geld aus. Und der rotzt rum. Holt alles ganz tief aus Rachen und Nebenhöhle und spuckt es aus.

WIE? EIN ERWACHSENER MANN ROTZT AUF DIE STRASSE?

Ich denke mir, naja, der soll das auch dürfen. aber der macht weiter. Und nochmal. Und nochmal.

Meeeine Güte, hat ders dann mal? Ich drehe mich um und schaue ihn an. Und jetzt merke ich: nee, 20 bin ich nicht mehr. Ganz schön spießig von mir. Strafende Blicke sind die inoffizielle Strafe für inoffizielle Straftaten. Auf seiner Ebene will ich aber nicht sein, auch nicht als inoffizieller Polizist. Also lasse ich es sein und laufe weiter.

Ein Typ Mitte 20 läuft mit Tornister auf dem Rücken und, Achtung jetzt kommts, im T-Shirt rum. Gut, die letzten 2 Wochen waren eine Schande für den Winter. Heiligabend soll es in München 20,7 Grad warm gewesen sein. Aber inzwischen haben wir doch sinnvolle 4 oder 5 Grad und es erschließt sich mir nicht, wieso der im T-Shirt rumläuft. Rest-Alkohol? Der macht nicht den Eindruck.

In der Altstadt wurde das Feuerwerk verboten, akute Brandgefahr. Fachwerk und so. Ob mir das egal ist, weiss ich nicht. Einerseits ist da ja der Müll und andererseits: wo Feste gefeiert werden, bleibts nicht sauber. Ist ja nur für eine Nacht. Egal, verboten ist es trotzdem, und als ich die Fußgängerzone verlasse, sehe ich, wie genau sich die Leute daran halten:

20130101_093617

Original ab der Grenze (draufklicken zum Vergrössern) ist alles zugemüllt. Die spinnen, die Deutschen. Haarscharf an die Regel gehalten und in der Altstadt nicht geböllert, danach dann aber volle Kanne volles Rohr. Aber spinnen die wirklich? Machen Regeln manchmal auch einfach nur Sinn? Wenn das mit der Brandgefahr kein Vorwand ist, wenn die Altstadt tatsächlich leicht abfackeln könnte, dann macht es doch Sinn, sich an die Regel zu halten. Oder gehts da nur darum, irgendwie den Spaß zu regeln? Weil man doch ein schlechtes Gewissen hat, Geld in Form von Böllern verpuffen zu lassen. Dem haftet was von Dekadenz an. Weil die Kinder in Afrika nichts zu essen haben und wir unseres doch dauernd rausschmeissen.

WIE? DU VERPULVERST DEIN GELD ANGESICHTS DER ARMUT IN DER WELT?

Naja, immerhin spende ich auch regelmäßig was für soziale Einrichtungen, höre ich meine innere Stimme entschuldigend sagen. Aber so richtig helfen tun Almosen nur uns: sie besänftigen unser schlechtes Gewissen, sein wir doch mal ehrlich.

Dabei ist dieser ganze Handy-Schnickschnack doch die viel größere Geldverschwendung. Oder Autos. Oder Computer. Nur dass die nicht so schnell verpuffen. Sie oxidieren, aber Oxidation ist ja auch eine ganz langsame Form von Verbrennung. Ich beginne mich zu fragen, wieviel Geld 3Sat den ganzen Verlagen und Plattenfirmen zahlt, deren Live-Videos sie jedes Jahr zu Sylvester und Neujahr senden. Dabei hab ich nix dagegen. Es wäre halt nur mal schön, was anderes als Queen und Coldplay zu sehen, die man dauernd irgendwo sieht. Arcade Fire vielleicht mal? Mumford & Sons? Und wenn schon Oldies, dann gerne mal Jeff Buckley oder dEUS. Oh Gott, sind die schon Oldies? Jep, ganz so wie ich einer zu sein scheine.

Also gut, ein wenig Hedonismus muss erlaubt sein, und echte Hedonisten werden mir für diese Relativierung („ein wenig…“) schon wieder strafende Blicke zuwerfen. Aber bei mir fressen halt noch 3 andere mit, da kann ich nicht alles in Knaller investieren.

Das heisst: Knallern ist erlaubt, informell aber geächtet und doch nicht sanktioniert, da es so gut wie jeder tut (ja, ich habe Lamneks „Theorien abweichenden Verhaltens“ im Bücherregal). Um deshalb nur scheinbar etwas dagegen getan zu haben, gibts diese „Böllern nur außerhalb der Altstadt“-Regel, und da hält sich auch so gut wie jeder dran, außer ein paar wenige, die entweder dumpf, Pyromanen oder die wahre, echte, heldenhafte Revolution sind. Weil sie sich auflehnen gegen Bevormundung des Systems und in der Altstadt böllern. RAF as it was meant to be.

20130101_092418

Kurze Zeit später, ebenfalls in der Altstadt. Niemand da? Doch. Eine alte Frau kommt mir entgegen und rotzt ebenfalls rum. Vielleicht trifft sie sich ja mit dem Typ im schwarzen Mantel, keine Ahnung. Was ist denn los heute mit den Alten? Ich habe dieses ethische Dilemma für mich zunächst mal beantwortet und funktioniere: keine strafenden Blicke, allein schon, weil sie eine Frau ist. Vielleicht ist ihr das so rausgerutscht und Frauen furzen nicht, das ist fast schon eine formelle Norm. Denen wurde das abgewöhnt. Zeit für die Revolution, die Damen.

Ganz gegen Ende kommt mir noch mal einer im T-Shirt entgegen (die spinnen, die Deutschen…) und der hat eindeutig Rest-Alkohol. Ich merke es, als er stehenbleibt, um sich eine Kippe anzuzünden. Im Laufen kann man das noch irgendwie kaschieren, aber still stehen? Ist eine echte Herausforderung. Eine kurze Seitentaschen-Hose hat er auch noch, obwohl seine Halbglatze von weißem Haar umrandet ist. Da erinnere ich mich an den Thrash-Metal-Opa in den 80ern, über den sogar eine Szene-Zeitschrift berichtet hat. Der stand bei Anthrax sogar in der ersten Reihe und hat den Kopf geschüttelt, da gibts Videobeweise von. Wenn ich das mal auf youtube finde, stelle ichs ein, damits auch jeder glaubt. Aber im Moment habe ich nicht wirklich Bock darauf, Anthrax-Videos durchzustöbern. Jedenfalls hatte der Opa damals ganz eindeutig inoffizielle Regeln verletzt, wohingegen es heutzutage ganz normal ist, dass Opis Heavy Metal hören.

Ganz gegen Ende meines Neujahres-Spaziergangs entdecke ich aus dem Augenwinkel folgenden Spruch an einer Bushaltestelle:

20130101_094053

Ist Graffiti noch eine Regelverletzung oder schon etabliert? Zumindest gilt das hier ja schon gar nicht mehr als Graffiti und das ist für mich schon wieder revolutionär, denn: Graffiti ist eine eigenständige sowie etablierte (kein Vorteil, kein Vorteil…) Kunstform geworden und steckt schon voll im eigenen Manierismus. Das ist fast schon schlimmer als Heavy Metal.

Moment mal, denkt jetzt vielleicht jemand. Der scheint Metal ja regelrecht zu hassen, nimmt aber Iron Maiden auf.

Tja, erstens hasse ich Metal nicht und zweitens braucht jeder auch ein wenig Trash. Mir ist halt klar, dass Metal kaum noch Neues zu bieten hat, und weil ich mir darüber bewußt bin, höre ich es ab und zu, wenn ich sowas brauche.

Du musst dir halt nur darüber im Klaren sein, dass du gerade sündigst.

Seltsame Welt. Früher sagte man: eine Sünde wird umso größer, je bewusster man sie begeht. Aber Regeln ändern sich halt nach Bedarf und der moderne Mensch bedarf neuer Regeln, die sein selbstgewähltes, freiheitlich individualistisches Leben legitimieren – auch wenn es gar nicht selbstgewählt ist, sondern von Massenmedien und -konsum determiniert. Hauptsache, wir fühlen uns geborgen in einer Legitimation.

Du bist up-to-date. Kennst den neuesten Scheiss. Und wenn du mal geschmacklosen, alten Scheiss hörst, dann ist das Kult. Fun. Witzig irgendwie. So wie Fasching: am 11.11.  beginnt der Spass und an Aschermittwoch hört er auf. Regeln geben Sicherheit, Regeln geben Geborgenheit.

Was hat das alles mit Neujahr zu tun?

Nichts und alles. Es geht bei Neujahr vielleicht einfach nur um die Frage, ob wir uns verändern können. Jeder nimmt sich irgendwelches Zeug vor, angefangen beim Nikotin-Entzug bis zum neuen Job oder dem lapidaren Aufräumen des Kellers samt aller Leichen darin. Jeder nimmt es sich vor, und es ist doch auch egal, ob es klappt. Aber Neujahr ist doch der Beweis dafür, dass wir zumindest in unseren Wünschen frei sind. Wenn wir das ändern können, können wir alles ändern. Regeln regeln unser Zusammenleben. Sie helfen, sie stören, abwechselnd, gleichzeitig. Wichtig ist nicht, ob man sie mag oder nicht. Wichtig ist, dass man kapiert, dass sie von uns gemacht sind. Also können wir sie auch ändern oder abschaffen. Davon bin ich überzeugt. Scheiss auf die Regeln.

20121121_103735

Regeln make the world go roundabout.

Die Jugend von heute…

Wieder einmal geschäftlich mit der Bahn unterwegs, ist mir diesen Freitag folgendes passiert:

Ich sitze auf einem nicht reservierten Platz in einem fast leeren Abteil mit 7 oder 8 Personen. Die Tür geht auf, ein altes Ehepaar kommt rein. Sie bleiben auf meiner Höhe stehen und ich höre den Mann sagen:“ Junger Mann, Sie sind hier falsch!“. Aha, denke ich, hat die Bahn mal wieder die Reservierungsanzeige nicht eingeschaltet. Kommt immer wieder vor und sorgt bei Menschen, die öfter Bahn fahren, nicht mal mehr für ein müdes Gähnen. Sind genügend Plätze frei, setzt sich der Mensch mit der Reservierung eben woanders hin und kündigt an, bei Bedarf den Platz einzufordern. Sind von Anfang an wenig oder keine Plätze frei, räumt man eben sofort, klar. Ein schönes Beispiel dafür, daß man alles regeln kann, ohne alle Regeln befolgen zu müssen. Man muß halt nur mit den Leuten reden. Keiner fragt danach, die Reservierung einsehen zu können – wer hier bescheißt, bescheißt sich doch irgendwie selber.

Ich sage sowas wie:“Oh, natürlich!“ und räume den Platz. Beim Aufstehen weise ich darauf hin, daß die Anzeige nichts anzeigt, so daß das Ehepaar versteht, daß ich zufällig und unwissend auf deren Platz gesessen bin. Plötzlich höre ich ein barsches „KOPF WEG!“ und in letzter Sekunde kann ich meinen Kopf aus der Gefahrenzone bringen – der Mann reißt seinen Hartplastikkoffer hoch, um ihn auf die Ablage über dem Sitzplatz zu hieven. Das war ziemlich knapp.

Im ersten Moment bin ich etwas fassungslos, dann stammele ich etwas wie: „Also, Sie müssen mich schon noch wenigstens mein Zeug zusammenpacken lassen…“. Nix. Keine Reaktion, das Ehepaar ist mit dem Bezug des neuen Reviers beschäftigt. Mein Ex-Vordersitzer, der das alles mitbekommen hat, bietet mir aufmunternd seinen Nebenplatz an, aber irgendwie habe ich den Impuls, hier zu verschwinden und lehne dankend ab.

Nachdem ich ein paar Meter weiter vorne meinen Krempel auf einem der zahlreichen Plätze verstaut habe, sitze ich nun in Gegenfahrtrichtung. Und da glaube ich nicht ganz, meinen Augen zu trauen. Das Ehepaar sitzt gar nicht mehr da, wo es mich vertrieben hat, sondern vorne am Tisch und plegt, zu speisen. Die Jacken sind nach wie vor am reservierten (?) Platz.

Man hört ja immer so Sprüche von wegen der heutigen Jugend, die keinerlei Kultur habe und/oder unverschämt und/oder asozial sei.

Ich kann von diesem Paar (das übrigens recht elegant gekleidet war) nur sagen, daß alle drei Attribute zutreffen: diese zwei alten Menschen waren unkultiviert, unverschämt und letztlich asozial. Andere Menschen hätten sich auf einen der zig anderen freien Plätze gesetzt, aber das wollte ich ja gar nicht. Ich habe ja geräumt, und nach der Reservierung habe ich nicht gefragt. Zudem war die Anzeige kaputt, d.h. ich habe denen geglaubt, obwohl es zum guten Ton gehört, seine Reservierung vorzuzeigen. Es gab also überhaupt keinen Grund, den Platzhirsch zu markieren. Wenn aber jemand das tut – also ohne Not den Platzhirsch rauszuhängen – heißt das nichts anderes, als daß er das nötig hat und sich in dieser Rolle gefällt: Ellbogenmentalität in Rein-(un-)kultur.

Asoziales Pack. Man kann es nicht anders nennen. Junge Leute haben sich mir gegenüber nie so verhalten, im Gegenteil: sie sind immer felxibel, sei es als einen Platz Reservierender, sei es als einen reservierten Platz Besetzender. Ausgehend von diesem Erlebnis kann ich das Vorurteil gegenüber „der Jugend von heute“ nicht bestätigen.

%d Bloggern gefällt das: