pervers: Leute laden „Wetten Dass?“-Unfall-Video hoch

Jeder weiß, was da gerade eben im ZDF passiert ist: ein junger Mann ist verunglückt, als er mit Sprungstelzen Saltos über Autos gemacht hat.
Zunächst hat die Kamera konsequent „weggeschaut“. Dann hat Michelle Hunziker um ein Tuch gebeten, um den Leuten im Saal die Szene zu ersparen.
Dann wurde die Sendung unterbrochen und Videos vergangener Wetten-dass-Musik-Acts gespielt.
Nach ca 30 Minuten Ungewißheit kam die Entwarnung: Der Mann, Samuel, sei ansprechbar und könne seine Füße bewegen. Jedoch könne man in dieser Lage nicht einfach weitermachen. Deshalb werde die Show abgebrochen, so Gottschalk.

Natürlich bin ich nach dem Unfall so schnell wie möglich auf twitter, um das Neueste zu erfahren. Ich gab „wetten dass“ ein und wartete. Die tweets wurden angezeit. Nach ca 1 Minute machte ich einen Refresh. 1500 neue tweets. Ich wollte einfach Gewißheit haben. Erstaunlich der Inhalt vieler tweets, die ich dort lesen mußte:
a) tausende tweets, die mich darüber informierten, daß es einen Unfall gegeben hatte… na gut, das war einerseits verständlich, andererseits so sinnvoll wie Eulen nach Athen zu tragen.
b) hunderte weinende oder empörte Justin Bieber-Fans, die nicht verstehen konnten, daß die Sendung abgebrochen wurde.
c) ein paar dutzend Perverse, die Links zum eiligst hochgeladenen youtube-Video mit dem Unfall posteten.

Die ersten beiden Kategorien sind zwar irgendwie peinlich, aber verzeihlich.
Kategorie a) steht eben für den Schock, den man gerne überwinden will. Man hat nicht damit gerechnet, daß etwas passiert. Natürlich ist das alles auf Spannung ausgelegt, aber es ist eine Spannung wie bei einem Film oder einem Computerspiel… Menschen bei „Wetten dass…?“ machen die abgefahrensten Dinge, springen von einem fahrenden Auto zum nächsten oder kraxeln 30 Bierkisten in die Höhe, aber niemand rechnet wirklich damit, daß denen je mal was passiert.

Und dann passiert eben doch mal was, und zwar richtig. Der Typ lag leblos am Boden und die Leute im Saal schauten geschockt zur Bühne. Dazu der erigierte Presse-Fotografen-Graben, mit dem Zoom auf extremster Einstellung fotografierend – gespenstisch. Man ist plötzlich mit dem möglichen Tod eines Menschen konfrontiert und will einfach wissen, ob ers geschafft hat – man hat es sich ja nicht ausgesucht, das mitzukriegen. Und außerdem reichen die 4 oder 5 Sätze zur Person, die im anfänglichen Interview gegeben werden, aus, um aus einem Unbekannten eine greifbare Person zu machen, für die man eine Art Gefühle empfinden kann. Das war nicht irgendjemand – das war nach dem kurzen Interview der Samuel, ein Student der Musik, der Kindergottesdienste abhielt und auch noch bescheiden war. Den mochte man, obwohl man ihn überhaupt nicht kannte. Aber das war egal, denn man glaubte, ihn zu kennen.

Bestimmt gab es auch welche, die enttäuscht waren, aber ich war natürlich echt erleichtert, als ich die Entwarnung entgegengenommen habe.

Dann b):
da will ich gar nicht viel zu sagen… jeder war mal jung und in der Pubertät. So ist das nun mal. Als ich 8 Jahre alt war, hat mein Bruder mir erzählt, daß John Lennon erschossen worden sei. Ich wollte es nicht glauben und war sauer auf meinen Bruder. So verrückt ist Fanatismus. Und Bieber-Fans sind halt alle so ca. 8 jahre alt, also: was solls?

…aber c):
wie krank, wie pervers, wie kaltblütig muß man sein, um so schnell zu schalten? Also, um gemerkt zu haben, daß da etwas extrem Schockierendes passiert ist und man das auf youtube stellen könnte und dies auch innerhalb von 30 Minuten hingekriegt zu haben…?
Und es auch noch auf twitter zu verbreiten…?

Nee, dafür habe ich kein Verständnis. Ich bin echt kein Kulturpessimist, aber das ist einfach nur krank.

Was wird jetzt mit Gottschalk und Wetten dass…?

Ich hoffe, daß die weitermachen. Es werden Fragen gestellt werden. Fragen zur Sicherheit, zum Krisenmanagement, zur Berechtigung des Sende-Abbruchs, zur Berechtigung des nicht-sofortigen-Sende-Abbruchs, Fragen zur Ansprache Gottschalks usw. Das werden keine leichten Tage für Thomas Gottschalk.

Ich kann nur hoffen, daß er und die Sendung die folgenden stürmischen Tage übersteht. Auf twitter gab es auch gute tweets. Einer lautete sinngemäß: „bei RTL hätten sie voll draufgehalten, seid froh, daß es das ZDF war“. Genau so sehe ich das auch. Angesichts der absoluten Unkontrollierbarkeit des herrschenden Mediums Internet (man denke nur an die Perversen, die das Video vom Unfall hochgeladen haben, bevor sie wußten, ob Samuel überhaupt noch lebt) können wir froh sein, daß es noch kontrollierte Medien gibt, die zwar angesichts ihrer Kontrolle etwas spießig rüberkommen, aber andererseits genau durch diese Kontrolliertheit einen Rest Geschmack und Würde bewahren, bei sich und bei ihren Konsumenten.

Gottschalk hat übrigens bewiesen, daß er in der Lage ist, in einer extrem angespannten Lage das Richtige zu tun: er ist ruhig geblieben (obwohl er innerlich sicher genauso geschockt war wie alle anderen auch) und hat die Balance zwischen Authenzität und Beruhigung gefunden. Das ist nicht leicht in so einer Situation, da brechen andere zusammen bzw. driften in ein Extrem ab.

Ich habe mich oft über ihn geärgert, weil seine Sprüche manchmal unterirdisch sind. Ich habe oft Tränen gelacht, weil er streckenweise urkomisch ist. Aber in dieser Situation hat er bewiesen, was er wirklich draufhat: er ist Vollprofi und gleichzeitig Mensch.

Weitermachen, Gottschalk!

UPDATE:

Angesichts immer wiederkehrender Kommentare gleichen Inhalts nehme ich mal Stellung (Antwort) zu folgenden Fragen (F):
F: Warum machst DU, Feyd, das eigentlich?
A: Ich habe mir das gestern nicht ausgesucht. Und ich schaue auch „Wetten dass“ nicht wegen der gefährlichen Wetten. Mich haben die Auto-Wetten eh schon immer angekotzt und ich fand die intelligenten (wie mit dem Hund, der Luftballons mit dem Maul zerbeißt) eh schon immer besser. In dem Moment habe ich sogar gar nicht hingesehen.
F: Warum bist Du dann zum PC gerannt und hast bei Twitter nachgelesen?
A: Weil ich nolens volens mit dem Unfall konfrontiert war. Wer glaubt, das sei vorgeschoben, dem sei gesagt, daß ich mir das Video nicht reingezogen habe und auch weiter darauf verzichte. Wissen zu wollen, ob es dem Mann gut geht, hat etwas mit Sorge zu tun. Ich will ja jetzt auch nicht wissen, ob und welche Körperteile er sich geborochen hat. Ich habe ein Unglück gesehen, ohne selbst etwas dagegen tun zu können und mußte Gewißheit haben, daß es glimpflich ausgegangen ist.
F: Irgendwer lädt es sowieso hoch.
A: Irgendwer hätte die Juden in seiner Nachbarschaft sowieso verraten. Deshalb hat sich trotzdem jeder einzelne schuldig gemacht, der es getan hat.
F: Ich will mich nur informieren, um mitreden zu können.
A: Jemand ist bei einem Sprung verunglückt. Was tut es zur Sache, wenn man sieht, auf welchem Körperteil er aufkommt?
F: Warum schreibst Du einen Blog? Du willst doch auch nur Klicks!
A: Stimmt. Aber ich hatte seit gestern ca 25000 Klicks auf diesen Artikel. Es wäre jetzt ein Leichtes, einen Link zum Video oder das Video selbst einzustellen. Dann wären es vermutlich doppelt so viele. Und dafür bin ich mir zu schade. Außerdem habe ich bisher immer kritische Artikel zum Medienkonsum geschrieben. Viele davon hatten 50 Klicks und weniger. Deshalb hätte ich es trotzdem getan. Weil ich mit diesem Blog meine Meinung kundtun will – das tut jeder, aber nicht alle kontrollieren sich selbst. Ich versuche es und denke, das ist mir hier gelungen. So, und nun habe ich hier massenhaft Leser. Da kann ich nur auf meine bisherigen Artikel verweisen, die entsprechend unbekannte Nachrichten bearbeitet haben. Abgesehen davon: ist hier irgendwo etwas Voyeuristisches im Artikel?
F: Der junge Mann war sich der Gefahr bewußt.
A: Soll das heißen: richtig so, daß er verunglückt ist?
F: Der junge Mann war damit einverstanden, daß sein Auftritt medial aufgearbeitet wird.
A: Ja, aber nicht mit dem Unfall. Sonst wäre er ja angetreten, um zu verunglücken, und das kann ja wohl niemand behaupten.
F: ich bin erwachsen, ich kann selbst entscheiden, was ich sehen will, und das Video will ich sehen!
A: wenn Du so denkst, bist Du nicht erwachsen.
F: Die Welt ist nunmal pervers.
A: Ach, und da es nunmal so ist, wehren wir uns am besten gar nicht mehr dagegen…?

Kaczynski-Trauer = Enke-Trauer?

Gestern ist der polnische Präsident Lech Kaczynski bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. tagesschau.de:

Unter den Opfern sind auch die Gattin des Präsidenten, Maria, der Zentralbankpräsident Slawomir Skrzypek sowie der Generalstabschef Franciszek Gagor und der stellvertretende Außenminister Andrzej Kremer. Auch ein Bischof und Angehörige der Opfer von Katyn waren in der Maschine, zudem zahlreiche Parlamentsabgeordenete und weitere hochrangige Militärs.

Mich interessieren die teilweise grotesken Reaktionen auf dieses Unglück.

Zunächst einmal das eigentlich gut gemeinte Argument, die Trauer sei einseitig, gespielt, organisiert und somit nicht echt. Schließlich seien auch andere Menschen im Flugzeug gestorben – ebenso wie täglich tausende von Menschen auf der Welt verhungern, darunter Kinder. Man fühle sich an den Enke-Trauer-Tourismus erinnert.

So schreibt der User „Deliberare“ als Kommentar auf tagesschau.de am 11.04.2010 um 11.30 Uhr:

„(…)sondern auch weitere 132 Menschen, dessen Gesichter und Namen der allgemeinen Öffentlichkeit nur Schall und Rauch sind“.

Mag ja sein, aber bei jedem Unglück muß man sich nach direkten und indirekten Folgen oder wenigstens der stellvertretenden Bedeutung für die Gesellschaft fragen. In diesem Zusammenhang war das beste Argument für die immense Aufmerksamkeit gegenüber Enkes Tod noch die Fokussierung auf das Problem, daß im (Profi-)Sport so wenig Platz für Menschlichkeit war, daß Enke sich gezwungen sah, sein Problem zu verheimlichen. Konstruktiv wäre also gewesen, eine Diskussion über die Oszillation der Imperative unserer Leistungsgesellschaft in etwas urspründlich so unschuldigem und spaßig gedachtem wie dem Sport zu führen. Ist ja leider nur in ganz seltenen Fällen geschehen.
Im Fall Kaczynski jedoch muß man nicht nach einer dahinter stehenden Bedeutung suchen. Das Unglück hat direkte Auswirkungen: Neuwahlen, womöglich ein Regierungswechsel. Zudem ist der Vorgang doch äußerst seltsam und angesichts der Masse der hochrangigen Opfer in jedem Fall bemerkenswert, gerade für die politische Presse. Die muß einfach darüber berichten, sonst ist sie nicht ernst zu nehmen.

Ein Blick auf mirkos Kommentar heute um 10.18 Uhr auf web.de:

mein beileid den angehörigen

aber trauern um den da
sry genauso wenig wie um den haider
der spaltpilz hat uns deutsche doch immer nur als melkkuh angesehen und sich überall eingemischt
europaisch alles geblockt

vermissen werd ich ihn nicht..

Ohne Worte.

Zwiebelhaube heute um 11.03 Uhr dazu:

bestürtzt über seinen Tod bin ich wirklich nicht. Ein deutschlandhasser weniger !!! Im Gegenteil … Und dann muss die Merkel nachtürlich ihr tiefstes Bedauern dazu aussprechen…..was für eine Heuchlerin.

Ebenfalls ohne Worte.

Dann nochmal ein Blick auf das Forum von tagesschau.de gestern:

Ein User beschwerte sich über die eingedeutschte Schreibweise des Namens Kaczynskis. Mag sein, daß das etwas kleinlich ist, im Prinzip hat er jedoch recht. Warum wird hierzulande jeder noch so blöde Anglizismus kritiklos, ja, ekstatisch übernommen, während man Schrift und Sprache direkter Nachbar-Nationen noch nicht annähernd kennt? Es gibt glorreiche Ausnahmen in der deutschen Bevölkerung und sie beweisen, daß slawische Namen keineswegs schwerer auszusprechen sind als deutsche – man muß es eben nur versuchen. Tut aber leider fast keiner. Dabei geht es auch gar nicht darum, ob die Aussprache gelungen ist oder nicht. Es reicht schon aus, es wenigstens zu versuchen.

Die Art und Weise, wie sehr sich darauf folgende Kommentatoren auf den Beitrag gestürzt haben, ist jedoch noch viel kleinlicher als der Ursprungskommentar. So, als ließe sich Unmut über die unkorrekte Schreibweise wegdiskutieren.

Zum Abschluß noch mal web.de, bestens repräsentiert durch seinen User tomicat um 15.41 Uhr:

„Trauerbeflaggung für einen toten ausländischen Präsidenten?
Aber für drei deutsche Soladten- die „für ihr Land gefallen sind“ gibt es sowas nicht.
Komisch. Aber bestimmt bin ich jetzt gleich wieder ein „typisch rechter Deutscher“.
Helft mir bitte, wer hat das nun mehr verdient?“

Meinungsfreiheit bedeutet eben auch, daß wirklich jeder Depp sein Paradethema mit jeder x-beliebigen Meldung verquicken darf. Und dafür gibts bei web.de auch noch 13 Daumen hoch (von 13).

tiehierf – the number of exclusion

Bergab.
Kurve.
Naß.
U-Bahngleise.

Zuviel für einen Kangoo. Der Wagen bricht aus. Nach rechts, nach links, dann wieder nach rechts.

Danke, parkendes Auto, danke Betonpfeiler, denn ohne Euch…
Glimpflich, ja, aber auch ein Blechschaden muß polizeilich registriert werden. Da sitze ich nun im Einsatzwagen, den Unfall vor meinem geistigen youtube-Fenster in HD loopend. Und während ich auf meine Papiere warte, sehe ich es:

Die Innenverkleidung der Polizeiwagentür.

Hartplastik, zerkratzt. Nicht ein oder zwei Kratzerchen etwa, die unsereins vom übereifrigen Ein-und Aussteigen oder dem Transport des neuen IKEA-Regals kennt, nein. Diese Tür ist übersät von Kratzern und ohne je dabeigewesen zu sein, sehe ich vor meinem inneren Auge entsetzt die Situationen, in denen sie entstanden sind. Nix mehr youtube.

Die Realität drückt auf das „X“ und dann bekomme ich sie wieder, meine Papiere.

„Die Fahrzeughalter werden sich vermutlich die nächsten Tage mit Ihnen in Verbindung setzen und dann müssen Sie ihrer Kfz-Versicherung blablabla…“. Ach ja, mein Leben in der Mitte dieser Gesellschaft war etwas aus der Spur geraten, erinnere ich mich.

Während ich das Polizeiauto zurück in dieses bürgerliche Leben verlasse, sehe ich die Spuren, die bei den Gewaltakten entstanden sind. Man kann sie lesen: hier mußte jemand rein, der garantiert nicht rein wollte.

Und im Namen aller Inhaftierten lese ich die Spuren rückwärts: Freiheit.

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