Der große Bruder und der Joystick

1984, ein kurzer Rückblick:

die Eurythmics steuern den Soundtrack zur Verfilmung von George Orwells Dystopie „1984“ bei, in der „der große Bruder“ an der Spitze des totalitären Überwachungstaates „Ozeanien“ steht.

Die UdSSR findet ebenfalls einen neuen großen Bruder: nach der kurzen Amtsperiode Tschernenkos wird Andropow neuer Chef der KPdSU, und er wird noch kürzer als sein Vorgänger im Amt und am Leben bleiben. Vom Tod Andropows zum Kollaps des weltweiten Konsolenmarktes:

im Jahr zuvor ist dieser desaströs untergegangen (Ausnmahme: Japan), und die Kids wenden sich in ihrer Freizeit den 8-Bit-Heimcomputern zu. Und jetzt sind wir wieder beim „großen Bruder“, meinem großen Bruder. Der bekommt nämlich den erfolgreichsten 8-Bit-Computer aller Zeiten zu Geburtstag, Weihnachten und nochmal Geburtstag, einen Commodore 64. Aber der Reihe nach:

Im Juni 1984 komme ich heim aus Bad Wurzach, wo ich das Salvatorkolleg besuche. Ein modernes, gutes Internat, aber da will ich nicht sein. Nur jedes 2. Wochenende nach Hause und ich war bisher nie länger als einen Tag weg…

Mein zweitältester Bruder K. schwatzt meinen Eltern einen C64 ab, mit den üblichen (Schein-)Argumenten: Programmieren lernen, für die Schule nutzen… in Wirklichkeit geht es schlicht und ergreifend um Computerspiele. Darauf nimmt diese Anzeige in der Happy Computer (damals noch „Hobby Computer“, aus Angst vor einem Rechtsstreit mit einer anderen Zeitschrift dann umbenannt) bezug:

HobbyComputer831100119In den End-siebzigern / Anfang-80ern war „Atari spielen“ ein Synonym für Konsolen-/Computerspielen allgemein, da Atari mir seinem 2600-System den Markt dominierte (Quelle: HobbyComputer / Happy Computer, 11/1983)

Ich kenne in den folgenden 5 Jahren so gut wie niemanden, der mit dem C64 programmiert. Genau 2 Leute in meiner Umgebung programmieren – auf dem CPC 464 im Karstadt und wie sich Jahre später herausstellt, programmiert Micha, während Jo dessen Programme als die seinen ausgibt. Alle anderen zocken. Paradroid, Impossible Mission, Ghost ´n´ Goblins, Raid over Moscow, Bruce Lee… ich zocke 1986 / 1987 Druid wie blöde und 20 Jahre später schreibe ich den Artikel des Monats (fast des Jahres, 2. Platz) auf C64-Wiki – mein erster und letzter Artikel. Ich bin Druid-Fan, kein Wikipedianer. Die Spiele werden zu 90 % kopiert, ganz so wie Musik heute (bei mir ist es andersrum: 90 % meiner Musik ist gekauft). Anfangs hilft die enorme (illegale) Distribution der Nischen-Branche, über die professionelle Medien kaum berichten. Später, als sich Heimcomputer und Spiele etablieren und dank der Marktexpansion die Entwicklungskosten höher werden, führt die Kopiererei oft zur Pleite manch mittleren Software-Hauses.

Druid04Feinde bezwingen, Schätze horten, Magie anwenden: bei Skyrim, Diablo oder WOW gibts auch nichts wesenlich Neues, allerdings ist die 8-Bit-Grafik ungemein besser als jene der neueren Vertreter: Druid auf dem C64 (Quelle: eigene Darstellung)

Noch weiss man nicht, wer das Rennen auf dem 8-Bit-Computermarkt macht und der C64 ist zunächst nichts weiter als ein Kandidat neben Ataris 800 XL oder Schneiders CPC 464.

Mein Bruder schließt den unter Fans liebevoll „Brotkasten“ genannten C64 an den Fernseher an und ich sehe Folgendes:

C64_startup_animiert(Quelle: Wikipedia)

Ich tippe irgendwas rein, drücke „Return“ und bekomme den ersten Syntax Error? meines Lebens. Dann tippt K. inetwa folgendes BASIC-Listing rein:

10 PRINT“K. IST COOL   „;

20 GOTO 10

Anschließend läßt er das Programm mit „RUN“ laufen und der Bildschirm füllt sich damit:

listing2(Quelle: CCS64 im Halbzeilenmodus)

Der Computer versteht ihn. Ich starre begeistert auf die willig vollführte Endlosschleife, ohne zu wissen, was man damit eigentlich anfangen können soll. Von dem „Donkey Kong“-Automaten im Edeka ist das noch weit entfernt. Fürs erste aber reicht es: ich bin beeindruckt. Aber kurz darauf bezichtige ich Commodore des Betrugs, weil man, um mit dem C64 spielen zu können, Software und einen Joystick benötigt! Du zahlst für das Ding 800 DM und das reicht noch nicht zum Spielen… einen Fernseher kaufst du und kriegst das Programm (also damals die drei Sender ARD, ZDF und SWR…) kostenlos dazu.

K. zeigt mir die entsprechenden Seiten im Quelle-Katalog und ich bin völlig fertig… ein Joystick kostet damals um die 100 DM, Spiele auf Kassette 50 DM… für eine Familie mit 6 Kindern außer Reichweite. Doch kurze Zeit später ereignet sich ein Wunder:

Ein Bekannter der Familie schenkt K. 150,- DM, einfach so. Er hatte sich Jahre davor nie gemeldet und tut dies auch danach nie wieder, aber genau jetzt macht er es: es gibt einen Gott im Himmel und gnädig schickt er seinen Segen auf uns herab.

K. investiert das Geld sofort in einen Joystick und ein Spielmodul (50 oder 60 Mark): Lazarian. Wir kaufen das Spiel blind. Die Medien schweigen das Thema Computerspiele noch weitestgehend tot oder berichten halb angeekelt, halb amüsiert über die „Freaks“, die abwesend in Bildschirme starren und hin und wieder plötzliche Freude- oder Unmutsäußerungen von sich geben. Sowas wie Spiele-Zeitschriften gibt es nicht, und bis zum Internet-Boom werden noch locker 10 Jahre vergehen. Entweder kennt man also ein Spiel von Kumpels, oder man versucht sein Glück aufgrund evtl. vorhandener Screenshots auf der Verpackung. Im Falle Lazarian ist es eher ein Glücksfall. Kein Burner, aber für damalige Verhältnisse OK. Das Spiel ist also ein Modul. Moment mal, ein Modul für einen Heimcomputer?

lazarianmodulEtwa so groß wie eine Zigarettenschachtel: die Module für den C64.

Obwohl der Erfolg von Heimcomputern durch ihre Speichermedien Kassette / Diskette begründet wird, glaubt man 1982 noch, Modulschächte einbauen zu müssen. Das führt dazu, dass solche Module heutzutage bei Ebay 10 € und manchmal mehr erzielen. Immer noch.

lazarian_03Unser erstes Computerspiel: Lazarian. Ich wette: wenn ich mich heute dransetze, schaffe ich es mindestens einmal durch. Seltsam: ein Extraleben gibts bei 14000 Punkten, nicht bei 10000, 15000 oder 20000. Kein Mensch weiß, warum (Quelle: Lemon64).

Bevor wir also kassettenweise Spiele bei Kumpels kopieren, kaufen wir noch ein weiteres Modul, Radar Rat Race. Mit diesen ersten beiden Spielen verbringen wir Wochen. Dann kommt eine Datasette (irgendwas um 150 DM) ins Haus und die alten Biene-Maja-Hörspiele müssen dran glauben: auf der ersten Ladung (von „Thomas“, einem  Freund meines großen Bruders, den ich nur dem Namen nach kenne und der synonym für „Spiele-Quelle“ steht) befinden sich „Turbo Tape“ und 8 Spiele, u.a. Donkey Kong, Moon Shuttle, O´ Reillys Mine. Wichtig sind damals nicht Rankings oder Fähigkeitenbäume – wichtig ist damals der High Score und das nächste „Bild“: Moon Shuttle hat 2 Bilder, Donkey Kong hat 4 und Lazarian sogar 6! Am tollsten ist es, wenn man, wie bei Scramble oder Blue Max irgendwann zu einer Stadt kommt: viel Feind, viel Ehr´, doch eigentlich passiert in den Städten im Grunde dasselbe wie sonstwo: Feinde müssen abgeballert werden.

Anirogs „Donkey-Kong“-Clone mutet wie dessen kleiner Bruder an – wir haben es gerne gespielt (Hol dir den Hammer! Hol dir den Hammer!!!)

Bis ich die Vorzüge von Modulen wieder zu schätzen lerne, vergehen Jahre voller gerissener und verwurschtelter Kassettenbänder, Spurlagenproblemen und zerknickter, aufgrund Verschmutzung unbenutzbar gewordener und magnetisierter Disketten.  1993 kaufe ich mir ein Super Nintendo und bin glücklich. Einstecken, einschalten, spielen. Doch zurück ins Jahr 1984.

Nicht nur die Spiele, auch diverse Joysticks werden zuende gespielt. Die Dinger sind damals bereits äußerlich billig verbaut und innen siehts auch nicht besser aus: Schnappscheiben auf einer Platine werden eingedrückt und das heißt nach etlichen Stunden Spielzeit: die Dinger brechen und entweder gibt es keinen oder einen dauerhaften Kontakt. Heißt also: die Spielfigur bewegt sich entweder gar nicht oder dauernd in die Richtung des kaputten „Knackfrosches„.

quickshot1Weitverbreitet, oft geschrottet: der Quickshot I (Quelle: thosewerethedays.de)

Wir lösen das Problem dadurch, dass wir zuletzt auf der nackten Platine spielen und die Kontakte mit den Fingern bedienen – früher hat uns das kaum einer geglaubt, heute, in Zeiten der WASD-Steuerung, wissen wir: es geht. Als die Platine so kaputt ist, dass auch das nicht mehr geht, spielen wir nur noch Spiele, die sich mit der Tastatur bedienen lassen – davon gibt es nicht wirklich viele.

Und dann, eines Tages, aus dem Nichts:

meine Mutter zückt einen 50-Mark-Schein und hält ihn meinem Bruder hin. Er solle sich einen Joystick kaufen. Ich nehme an, sie hat Angst, dass uns ein Stromschlag ereilt, wenn wir auf der nackten Platine spielen. Welch Glücksfall! Meine Eltern halten nicht viel vom der Zockerei und wir können froh sein, überhaupt das Ding an den Fernseher anschliessen zu dürfen, geschweige denn Geld für einen Joystick zu bekommen. Und nun das…!

Ich male mir schon aus, welchen Joystick wir uns holen. Es ist 1985, gerade mal 1 Jahr nach der Anschaffung des C64, und Joysticks sind weitverbreitet (außer bei uns) dank der Konkurrenz auf dem Markt. Deswegen sind die Dinger auch stabiler und billiger. Mit 50 Mark kommt man da verdammt weit. Dabei frage ich mich schon, was als erstes gezockt wird, doch dann höre ich meinen Bruder sagen:

„Nein Mama, ich werde selbst einen Joystick aus den Resten des alten bauen!“.

K. zeigt den Prototyp: der abgekrachte Stick des Quickshot I, an dessen unterem Ende einfach nur ein Saugnapf hängt. Und das wars.

Ich bin entsetzt. Er … will … äh … WAS???

Er behauptet tatsächlich, aus den Überresten der Hülle und einem Saugnapf, den man einfach auf eine Unterlage klebt, einen vollwertigen Joystick bauen zu können… selbst ein Elektronik-Noob wie ich weiss: das kann nichts werden ohne Elektronik.

Der freiwillige Verzicht verwundert mich umso mehr, als K. der weitaus größte Freak in der Familie ist – später wird er Systemadministrator werden. Eigentlich müßte er vor Freude jauchzen, doch er lehnt ab und in diesem Moment im Jahre 1985 bricht in mir eine Welt zusammen: So schnell wird meine Mutter bestimmt kein Geld mehr für die Zockerei locker machen und sie steckt tatsächlich den Fuffi wieder ein.

Vielleicht ist es auch ein Anflug von Verantwortungsbewusstsein, dass meinen damals immerhin 17-jährigen Bruder befällt, aber wenn ich daran denke, wie er in seinen folgenden wilden Jahren noch etliche Zeit mit Automaten- und Computerspielen verbringt, schliesse ich das hiermit dann doch mal aus.

Es ist wohl eine Art kosmischer Inzidenz, irgendeine Art von Fremdsteuerung, Quaksprech oder Fahren neben der Spur, die K. zu dieser Tat treibt – nie werde ich es wohl erfahren, denn Jahre danach muss er selbst noch lachen, wenn ich ihn daran erinnere.

Sicher ist aber, dass ich später irgendwie das Geld für einen Joystick auftreibe und dann mit einem Competition Pro mit Mikroschaltern und robuster Verarbeitung alle Decathlon-Sorgen los bin. Decathlon ist ein Sportspiel, bei dem sich die Figur umso schneller bewegt, je schneller man den Joystick hin- und herrüttelt. Man nennt diese Spiele auch Joystick-Killer. David, ein Freund, erzählt mir, dass er den 1500-m-Lauf nur zusammen mit einem Freund meistert, indem jeder an die Grenzen geht, rüttelt, was das Zeug hält und dann hysterisch den anderen um Ab- und Erlösung herbeiruft. Haaach, das waren noch Zeiten … man lese dazu die Kritiken einiger User zum Spiel.

Allerdings vergeht bis zum Competition Pro noch eine ganze Weile und ich sitze da mit einem C64, auf dem eigentlich die besten Spiele verfügbar sind, nur dass ich sie nicht spielen kann – ohne Joystick.

Joystick_Competition_PROSchluss mit gebrochenen Steuerknüppeln und eingedallten Knackfröschen: der Competition Pro ist äußerlich stabil verbaut, während innen Mikroschalter am Werk sind.

Abteilung „seltsam„: mein Freund Iwan – kein Russe, sondern ein Holländer – kauft sich 1986 auch einen C64. Bei ihm verbringe ich viel Zeit. Mit Druid und ihm als Golem. Aber weil er sich DAS DA kauft,

quickshot8Der Quickshot 8 hatte, ähnlich wie eine umgedrehte Maus der zweiten Generation, einen (halben) Ball, dessen Bewegungen von 4 Schaltern verwertet werden, verbaut. Nachteil bei den Mäusen: der Ball las jeden noch so kleinen Dreck und Staub vom Tisch auf und so mußte man immer wieder die Kontakte reinigen… bis die optischen Mäuse das Problem behoben.

schleppe ich meinen Joystick immer mit. Dieser Quickshot ist ergonomisch gestyled, liegt perfekt in der Hand, sieht futuristisch aus, aber: man kann mit ihm so gut wie gar nicht spielen. Klar, Iwan kann es, denn er hat ja keinen anderen und lernt etwas, was ihn zum exotischen Künstler macht, aber Normalsterbliche wie ich schleppen ihren Joystick mit und verzichten auf das Erlernen einer seltenen Fähigkeit, mit der man auf Partys Erstaunen ohne Bewunderung erntet.

Und zum Schluss nochmal unnützes Wissen:

als sich abzeichnet, das der C64 das Rennen um die Marktführerschaft machen wird, so gegen 1985, meint Commodore, mit dem C128 den großen Bruder des C64 etablieren zu können. Das Ding hat doppelt so viel Arbeitsspeicher, 80-Zeichen-Darstellung, kann mit CP/M betrieben werden und hat einen voll kompatiblen C64-Modus. Aber der C128 setzt sich nicht durch. Die Spieler können mit CP/M nichts anfangen und die meistens seriösen CP/M-User fragen sich, warum sie sich im C64-Modus mit so was infantilem wie Computerspielen die Finger dreckig machen sollen. Schliesslich gründet der Erfolg des C64 auf seinem berechtigten Ruf als Spielemaschine. Und so wird der C128 ein Flop. CP/M ist das erste plattformunabhängige Betriebssystem und verbreitet sich Ende der 70er / Anfang der 80er rasant. Aber man verpasst den richtigen Zeitpunkt für ein Update: als zu Zeiten des C128 endlich CP/M 3.0 ein größeres Publikum erreichen könnte, hat Microsoft mit QDOS und später MS-DOS bereits den Kampf gewonnen.

Ich hingegen kaufe mir erst 1994 einen PC – dann nämlich, als man etwas Sinnvolles damit anstellen kann: spielen. Und zu diesem Zeitpunkt zum Glück ohne großen Bruder, der einen schon mal eine Runde aussetzen läßt, weil man just in jenem Moment hustet, in dem sein Mario von Donkey Kongs Tonnen zermalmt wird.

2 Antworten

  1. Hey, den Quickshot 8 hatte ich (neben vielen anderen Joysticks) auch. So schwer war die Steuerung damit doch gar nicht… ;-).

    Vielen Dank für den schönen Rückblick!

    • Danke für den Kommentar! Ja, es ging schon auch mit dem Quickshot 8, natürlich hatte ich übertrieben. Aber allein schon aufgrund des Exotenbonus musste das noch mit rein 🙂

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