Charlie Hebdo – ce ne est pas ma guerre!

Herr Braybrook, in Paris wurden 12 Menschen bei einem Terror-Anschlag auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ getötet…

Ermordet.

…richtig: ermordet. Inwiefern hat das ihre Meinung zum Umgang mit dem Islam verändert?

Wir müssen verstärkt den Dialog suchen.

Wie bitte? Meinen Sie nicht, es wäre an der Zeit, genau diese weiche Strategie zu überdenken? Sie reden doch selbst von Mord.

Das waren Einzeltäter, die nicht im Namen des Islam gehandelt haben.

Diese Ausrede hört man bei jedem Terrorakt mit islamistischem Hintergrund. Kann man angesichts von tausenden von Toten noch von Einzeltätern sprechen?

Die Zahl der Opfer beweist, dass es hier um ein personenübergreifendes Phänomen geht. Ob dieses Phänomen ein typisch muslimisches Phänomen ist, halte ich für keinesfalls bewiesen. Man kann die Berufung der Täter auf den Islam nicht als Beweis dafür hernehmen, dass der Islam Menschen zu Mördern macht. Schliesslich beruft sich die deutliche Mehrheit der friedlichen Moslems ebenfalls auf den Islam.

Man kann aber sagen, dass der Islam offenbar missverstanden wird von einigen.

Weil er dazu prädestiniert ist. Wo „tötet die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie trefft“ steht, kann kein Frieden entstehen.

Derartige Dinge stehen auch in der Bibel. Warum findet keine Diskussion darüber statt?

Weil die Zeiten, in denen im Namen des Christentums gemordet wurde, längst vorbei sind. Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft. Niemand streitet ab, dass es vor der Säkularisierung Mord und Totschlag im Namen des Christentums gegeben hat.

Das beweist doch nur, dass es nicht wirklich um Religion geht, sondern um politische-gesellschaftliche Umstände, die die selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen ausnutzen und manipulieren. Seitdem die Kirche keinen weltlichen Einfluss hat, gibt es keine Kreuzzüge und Hexenverbrennungen mehr, dennoch ist es immer noch die gleiche Bibel, auf die sich das Christentum beruft. Eine tolerante Gesellschaft ist das Ergebnis vieler wackliger Faktoren und die Säkularisierung allein ist keinerlei Garant dafür, danken Sie an die NS-Diktatur. Die entstand Jahrhunderte nach Aufklärung und Säkularisierung.

Es gibt das Christentum heute und das Christentum im Mittelalter, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dennoch, beide berufen sich auf das Evangelium. Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem Kreuzritter und einem islamistischen Terroristen. Beide führen / führten ihrer Meinung nach einen heiligen Krieg.

Und deshalb gehören beide bekämpft.

Genau das ist der Unterschied. Wir werden islamische Staaten nicht von außen säkularisieren. Wodurch auch? Durch Krieg? Durch Aufklärung? facebook anybody? Glauben Sie, die haben keine eigene Philosophie, keine eigene Wissenschaft, keine Exegese des Koran?

Der erste Schritt könnte ein anderer sein: bevor wir die islamische Welt befreien, müssen wir uns erst einmal selbst schützen.

Wie kann man sich davor schützen, dass Menschen durchknallen? In den Ländern, die Terror-Organisationen beherbergen, herrschte lange Krieg, teilweise heute noch.  Welches Wundermittel haben Sie, um diese Leute davor zu bewahren, sich zu radikalisieren? Der Krieg bringt die niedrigsten Überlebensinstinkte im Menschen zum Vorschein. Das hat mit Vernunft, Mündigkeit und Intelligenz nichts mehr zu tun. Wer alles verliert und um sein Leben bangen muss, ist Argumenten nicht mehr zugänglich.

Stopp mal. Inwiefern ist die satirische Arbeit von Charlie Hebdo eine Gefahr für die Existenz der Killer von Paris gewesen? Was haben diese Islamisten durch Charlie Hebdo verloren?

Um es ganz klar zu sagen: es gibt keinerlei Legitimation für den Terrorakt in Paris. Ich halte es aber für entscheidend, klug zu analysieren. Um der eigenen Sicherheit willen, aber auch, um gerade jene Werte zu bewahren, die hier angeblich angegriffen worden sind.

Das heisst, neben der berechtigten Trauer, diese emotionale Welle nicht sich selbst zu überlassen. Die AfD, Pegida und die üblichen Verdächtigen aus der rechten Szene werden sonst auf dieser Welle reiten und sie für ihre Zwecke ausnutzen. Es hat bereits begonnen.

Vielleicht haben Pegida und AfD zumindest teilweise recht?

Nein, haben sie nicht, und schon gar nicht durch die Morde von Paris. Was die jetzt daherlabern, klingt ja fast schon nach Freude.

Inwiefern, frage ich, stellen die Morde einen Anschlag auf unsere Redefreiheit dar? Es wird keine Gesetzesänderung zur Meinungsfreiheit geben, und schon gar nicht, was Religions-Satire angeht. Das war den Tätern auch klar. Glauben Sie, die hatten vor, eine Gesetzesänderung zur Meinungsfreiheit zu initiieren? Es war viel eher ein Mittel, Angst zu verbreiten und selbst da dürfte den Mördern klar sein, dass sie niemanden zum Schweigen bringen. Es ging um das für radikalisierte Menschen typische „wir gegen die„, um blinde Wut, ausgelöst durch Verletzung religiöser Gefühle.

Und da wird doch schon klar, wo der Fehler ist, den wir nicht übernehmen sollten: „wir“ würde ja bedeuten, dass die Mörder von Paris für „die Moslems“ sprechen, denn zu Allah beten sie alle. Jedoch lehnt die überwältigende Mehrheit der Moslems diesen Terrorakt ab und toleriert – wenn sicher auch nicht mit Wohlgefallen – die Satire bzgl. ihrer Religion. Somit streichen wir schon mal „wir“.

„die“ – das impliziert, dass die Gegenseite, also der Westen geschlossen auf der anderen Seite stünden. Das ist aber nicht so. Es gibt sehr viele Nicht-Muslime, die die religiöse Satire ebenfalls inhaltlich ablehnen, auch wenn sie sie als Teil der Meinungsfreiheit tolerieren. „Wir gegen die“ – würde aber das genaue Gegenteil bedeuten: dass wir alle den Islam auslachen – NICHT: tolerieren, dass andere ihn auslachen. Das ist ein entscheidender Unterschied. Dieser zugeschriebenen Gleichsetzung beuge ich mich nicht. Ich würde nicht auf die Idee kommen, etwas, das den Moslems heilig ist, auszulachen, schon gar nicht öffentlich.

Weil sie Angst haben?

Nein, sonst wäre ich für ein Verbot dieser Satire aus Sicherheitsgründen. Das bin ich aber nicht. Nur heißt Toleranz noch lange nicht inhaltliche Unterstützung. Angst habe ich nun davor, dass genau dieser Gedanke missverstanden wird, dass jeder, der in Zukunft Mißfallen über religiöse Satire äußert, als Sympathisant des Terrorismus gesehen wird. Angst habe ich auch vor einem Zulauf bei den Rechten. Das, was Gesellschaften radikalisiert, ist der Verlust des Blicks auf den Einzelnen. Es gibt kein „ich“, es gibt nur noch die große Idee, das „wir“. Vielleicht reduziert man einen Radikalisierungs-Test in Zukunft auf eine Frage: lachst Du über Allah oder nicht? Und wenn dann einer sagt: nein, ich finde, darüber sollte man nicht lachen, gilt er als radikal.

Das klingt alles sehr kompliziert. Es ist doch eine leider ganz einfache Sache: da wurden Menschen umgebracht, weil sie der Meinung der Täter nach Dinge publiziert haben, die denen nicht gepasst haben. Was gibts denn da noch zu verkomplizieren? Einfache Frage, imaginäre Situation: hielten Sie es für anständig, all diese Gedanken auf der Trauerfeier für die Opfer von Paris zu äußern?

Nein, das würde ich nicht tun. Ich würde sagen, dass es keinerlei Legitimation für diesen verbrecherischen Akt gibt. Gleichzeitig würde ich aber ablehnen, aus Solidarität nun Anti-Islam-Cartoons von Charlie Hegda auf Plakaten zu tragen. Denn damit würde ich die vielen Moslems in ihren religiösen Gefühlen verletzen, die nichts mit den Mördern von Paris gemeinsam haben. Und genau dieses Gefühl habe ich im Moment. ZDF-Chefredakteur Peter Frey schreibt heute in seinem Kommentar „Der Anschlag von Paris ist ein Angriff auf uns alle, er zielt in das Herz einer freien Gesellschaft. „. Sorry, nein, das ist nicht der Fall. Charlie Hebda ist nicht das Herz einer freien Gesellschaft. Es ist eine extreme Erscheinungsform von Meinungsfreiheit, die sich zwar noch in deren Rahmen bewegt, zu der ich mich aber distanzieren darf. Wenige Verbrecher konnten diese Erscheinungsform nicht tolerieren und haben nun die Grundsatzdiskussion ausgelöst, inwiefern auch religiöse Satire zur Meinungsfreiheit gehört.

Ich sage ganz klar: natürlich tut sie das. Aus politischer, gesellschaftlicher Sicht, weil die Meinunsfreiheit ein zu erhaltendes Recht ist. Aber ich darf mich ebenso auf dieses Recht berufen und mein Mißfallen über derartige Satire äußern. Ich habe kein Problem damit, wenn manche Leute das lustig finden. Nur ich, ich finde es nicht lustig und weigere mich, mir von Peter Frey vorschreiben zu lassen, wo ich Charlie Hegda verorte. Ganz sicher nicht in meinem Herzen. Meinungsfreiheit heisst: innerhalb eines Rahmes darf alles gesagt werden. Es bedeutet nicht, dass jeder alles, was gesagt wird, auch gut finden muss.

Herr Braybrook, das sind schwierige Zeiten. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie sagen und lassen Vorsicht walten.

Ich hoffe das für uns alle. Angesichts mancher Kommentare aus der Pegida-Fraktion stelle ich mir die Frage, ob auschliesslich Trauer über die Morde in Paris besteht oder evtl. auch klammheimliche Freude. Ich hoffe, dass unsere westliche Gesellschaft in der Lage sein wird, humanistisch zu reagieren und das heisst: vernunftsbezogen, rational und mit der gegebenen Überlegung. Was ich in der Presse lese, beunruhigt mich: ich lese Dinge wie „Killer„, „Kriegserklärung an die ganze Welt„, „Massaker“ (ich verlinke Bild grundsätzlich nicht und eigentlich kann man die auch nicht ernstnehmen. Jedoch sprach heute.de gestern ebenfalls noch von einem Massaker, inzwischen ist diese Überschrift nicht mehr zu finden) – muss das weiter eskalieren? Reichen Begriffe wie „Mord“, „Terror“ und „Anschlag“ nicht aus? Die Welt schreibt, der Anschlag auf Charlie Hebdo habe einer Redaktion gegolten, die bis zum Letzten entschlossen gewesen sei, die Freiheit aller Denkenden jederzeit zu verteidigen. Das ist ein übler kriegerischer Jargon, der Leute zu Märtyrern stilisiert. Das ist aber falsch. Das geht zu weit. Die Redakteure von Charlie Hebdo wären im Leben niemals bereit gewesen, auf diese Weise für ihre Arbeit zu sterben. Da wird eine Situation konstruiert, die es so nicht gegeben hat.

Der Ausspruch: „je suis Charlie Hebdo“ trifft auf mich insofern zu, dass auch ich das Recht haben will, eine Satire wie jene zu äußern. Aber ich lese jetzt bereits seitens AfD und Pegida-Anhängern /-Sympathisanten, dass wir alle uns zusammen wehren müssten gegen den Islam. Das ist dann die Bejahung des „wir gegen euch“, sozusagen die gegenseitige Kriegserklärung. Ich glaube, dass das nicht der richtige Weg ist, mit Terror, Islamismus und Pegida umzugehen. Es ist Zeit, dass die schweigende Mehrheit sowohl Terroristen als auch Nationalisten gegenüber Stellung bezieht, die Gesellschaft für sich vereinnahmt. Das ist unsere Freiheit, nicht die Freiheit Pegidas. Und Gott, das ist unser Gott, nicht der Gott al-quaidas. Gott hat nichts mit Krieg zu tun.

Sie fragen mich nach einem Weg? Es gibt einen anderen Weg: „ce ne pas ma guerre“!

Baldurs Gate, Tolkien, Dune, Eskapismus, Remakes

Herr Braybrook, seit Ende November 2012 kann man Baldurs Gate (im folgenden „BG“) in einer Enhanced (im folgende BGE) Version bei Overhaul Games runterladen. Das Spiel kam 1998 auf den Markt und belebte das totgeglaubte Rollenspiel-Genre wieder. Der Erfolg war so immens (2 Mio verkaufte Einheiten allein vom 2. Teil der Reihe), dass eine ständig präsente Fangemeinde Mods erstellt und Foren betrieben hat, in denen immer wieder die Frage nach einer Fortsetzung der Reihe aufgetaucht ist. Nun soll durch die Enhanced Version Geld für die Finanzierung einer Fortsetzung der Reihe aufgetrieben werden. Sie als bekennender BG-Fan müßten sich das Spiel doch eigentlich sofort runtergeladen haben, oder nicht?

Nein, denn ich habe es ja bereits.

Aber was, wenn Overhaul Games nicht genügend Geld für eine Fortsetzung sammelt?

Also der Grund, eine Fortsetzung von BG zu machen, sollte Begeisterung sein und nicht die Frage, ob es sich lohnt. Wenn die das nur von dem eingenommenen Geld abhängig machen, ist das nicht mein Problem. Schlimmer noch: wenn die das nur vom der Finanzierung abhängig machen, vermute ich ein schlechteres BG 3 als wir es früher einmal mit BG 1, 2 und ToB-Erweiterung hatten.

Was ist mit der Beseitigung von Bugs? 400 sollen in der Enhanced gefixt worden sein.

Und neue sind dazu gekommen. Aber ich will da jetzt gar nicht so sehr auf der Enhanced rumhacken. Inzwischen ist ein Patch von Overhaul raus, und ich denke, wenn der oder weitere dazu führen, dass man BGE vernünftig spielen kann, werde ich einen Kauf in Erwägung ziehen. Allerdings spricht da dagegen, dass ich die Zeit dafür gar nicht habe, stundenlang in der Gegend umherzurennen und die Welt zu retten, selbst, wenns gut gemacht ist.

Na gut, zunächst einmal zu der Frage, was das Besondere an Baldurs Gate war.

Für mich persönlich ist das herausstechende Merkmal die Umsetzung der AD&D-Regeln. Dabei hatte ich zu Beginn meiner BG-Zeit keinen  blassen Dunst davon, was das überhaupt ist. Und das ist die zweite große Stärke dieses Spiels: der Einstieg war mitnichten kompliziert, ich braucht die AD&D-Regeln überhaupt nicht zu kennen, obwohl das Regelwerk natürlich seine Auswirkungen hatte. Ich bastelte mir irgendwie einen mittelmäßigen Charakter zusammen und legte los. Aber der Levelaufstieg, die Klassen, die Party, die Größe der Welt, das Non-lineare, ein gewisser Realismus – das hat mich erstmal bei der Stange gehalten, bis ich so langsam, Stück für Stück, hinter die Kulissen geschaut habe und beobachtet habe, wie sich mein Charakterentsprechend der Werte verändert. Wenn ich andere Ausrüstung oder einen neuen Level hatte, hatte das eindeutige Auswirkungen auf das Spiel. Und dann habe ich gemerkt, daß ich mir mehr Mühe hätte geben sollen beim der Charaktererstellung.

Hatte BG da versagt?

Im Gegenteil: genau so muß es sein: man startet es ganz gerne ein zweites und drittes mal und ich kenne nicht wenige Leute, die das weit öfter gespielt haben. Was meinen Sie aber, wie oft ich meine Entscheidungen bei der Charaktererstellung und beim Levelaufstieg bei Skyrim bereut habe? Und trotzdem habe ich es niemals neu begonnen. Das ist ja die pure Arbeit, den ganzen Mist nochmal zu spielen und alles neu zu „erforschen“. Die Halbwertszeit bei neuen Spielen mit „epischer Breite“ ist extrem gering, obwohl sie sogar BG an schierer Größe übertreffen. Wie kommt das?

Das Non-lineare, der , wie Sie sagen, „gewisse Realismus“ bei BG – ist es nicht genau das, was Sie bei Skyrim bemängeln?

Nein, denn bei Skyrim sehen beispielsweise alle Dungeons irgendwie gleich aus, genauso wie die Festungen. Bei BG war das nicht der Fall, obwohl es ja in keiner Weise mit dem Gigantismus Skyrims mithalten kann. Anders gesagt: bei BG auf Abwege zu gehen, machte so viel Spaß wie die Hauptquest und es verbesserte den Level. Bei Skyrim nervt es einfach nur. Was den Realismus angeht, hatte der seine Grenzen und das war gut so. Um genau zu sein, beschränkte er sich auf die AD&D-Regeln und da gehört er auch hin: in den Hintergrund. Ich kann diese AD&D-Regeln jetzt nicht en détail erklären, aber sie machen wirklich Sinn. Das liegt einfach daran, daß man aus 20 Jahren Regelwerk schöpfen konnte. Skyrim kann natürlich nichts dafür, daß es gerade mal halb so alt ist und auch nicht von derartig vielen Köpfen (weiter-)entwickelt worden ist. Aber mich als Konsumenten braucht das nicht zu interessieren. Skyrim spielt sich schlechter als BG, Punkt. Die Talententwicklung bei Skyrim ist ja gar nicht so schlecht in bezug auf ihre Ideen. Aber das Kauen eines Kaugummis ist manchmal spannender als der mühsame Aufstieg von Stufe zu Stufe, von Talent zu Talent und das alles hat noch nicht einmal direkte Auswirkungen auf meinen Charakter. Um gerade mal 100 Pfund mehr tragen zu können, muß ich mich auf Stufe 50 beim Taschendiebstahl (!) hochleveln. Das nervt. Bei BG gab es zwar auch begrenzt Inventarplätze und Traglast, aber mit den anderen Partymitgliedern ging das schon und ich mußte nicht stehlen, um mehr tragen zu können. Dieser Sinn hat sich mir bisher noch nicht erschlossen, aber ich werde darauf verzichten, es herauszubekommen.

Was ist mit dem Gigantismus? BG 2 soll 200 Stunden Spielzeit geboten haben. Sie sagten in bezug auf Skyrim, dass das vom Mangel an Ideen ablenken sollte. Umherirren, um möglichst lange nicht ans jähe Ende des Spiels zu kommen – war das auch bei BG so?

Nein. BG war ein wenig wie Tolkiens Herr der Ringe: da hatte sich jemand Zeit für die Details gelassen. Rollenspiele haben ja an sich das Problem des Eskapismus. Dieser steht nicht nur für Realitätsflucht, sondern auch für einen Mangel an narrativer Stringenz. Das war bei Tolkien nicht ganz so. Erstens hatte er mit der Idee des Meisterrings ein gutes literarisches Motiv gefunden, das Möglichkeiten der Übertragung in die Philosophie bot und das Tolkien auch entsprechend gut variieren konnte. Zweitens war der echt so verrückt, sich 14 Jahre Zeit zu lassen, um diese ganze Fantasy-Welt auszuformulieren. Was sonst die Fantasy so entlarvt, sind ja die irgendwie zusammengewürfelt klingenden Namen, die Ungereimtheiten in angeblicher Historie der Fantasiewelt, die Puppenhaftigkeit der Akteure usw. Man merkt, dass da unter Zeitdruck etwas entstehen muss, weil sonst kein Geld reinkommt.

Nicht so bei Tolkien. Der Freak hat sich nicht nur Namen einfallen lassen, sondern diese in eigens erfundene Sprachen eingebettet, sogar eine Grammatik dafür ausgearbeitet – was er als Sprachwissenschaftler ja auch konnte. Er hat Stammbäume und Fehden zwischen Völkern erfunden und Landschaften ausgemalt. Und vor allem: er schien dabei mächtig Spaß gehabt zu haben. Diese Detailverliebtheit macht den Herrn der Ringe deshalb auch zu einem Lesevergnügen. Dabei stehe ich überhaupt nicht so sehr auf erfundene Welten, aber dem Tolkien nimmt man den ganzen Zinnober ab – nicht zuletzt, weil der rote Faden mit Frodos Auftrag alles zusammen hält.

Bei BG nun war das zwar nicht auf dem Niveau Tolkiens, aber doch besser als bei anderen Rollenspielen. Was aber neben der Story das wichtigste ist: das Spielen hat Spaß gemacht. Die genannten 200 Stunden brauchte man nicht zu spielen, aber selbst, wenn man es getan hat, hatte man nie das Gefühl, in einer dahingeschluderten Nebenquest zu stecken. Das Balancing ist da ja oft ein guter Indikator – plötzlich, irgendwo am Arsch der Fantasy-Welt, steht man bei einem schlechten Spiel vor einem unbesiegbaren Gegner, der den Obermotz des gesamten Spiels in den Schatten stellt, obwohl seine Schergen noch umgepustet werden konnten – sowas gabs bei BG nicht.

Das alles wurde noch abgefedert durch das stringente Regelwerk. Wenn man die 20 Jahre Entwicklung von AD&D als Grundlage für das Regelwerk von BG betrachtet, wundert es einen nicht, dass man sich immer „fair“ behandelt vorkam (auch, wenn das Spiel teilweise ganz schön hart zu knacken war).

Wie sieht es aus mit dem Buch „Der Wüstenplanet“ von Frank Herbert? Riesige Würmer, die die Spice-Droge bewachen, Gildenavigatoren, die im Rausch durch das Weltall jagen, rituelle Bestattungen des Fremenvolkes – ist das Eskapismus?

Ich kennen nur dieses Buch, nicht die Ableger und Fortsetzungen. Frank Herbert hat hier eine gute Idee gehabt und die Fantasy dazu benutzt, diese Idee zu transportieren. Im Zentrum steht die messianische Heilsbotschaft und sie hält alles andere zusammen – die Intrigen und Machtspiele zwischen den Fürstenhäusern, die persönliche Geschichte und den ganzen Science-Fiction-Schnickschnack. Das mit den Drogen ist auch etwas Spezielles in diesem Roman. Man hat insgesamt überhaupt nicht den Eindruck von Eskapismus, im Gegenteil: Herbert scheint eigentlich nur diese Welt beschreiben zu wollen, und weil das so brisant ist mit den Interessenverbänden und den Herrschern, gehts da eben um die MAFEA und den Imperator und nicht die OPEC und des Präsidenten der USA. Aber es ist gut gemacht, darauf kommt es an.

Da lasse ich mich gerne in eine andere Welt entführen, denn das ist alles andere als Eskapismus.

War BG Eskapismus?

Ich gebe zu, dass mich bei Baldurs Gate die Geschichte eigentlich herzlich wenig interessiert hat. Es war wirklich das AD&D-Regelwerk, welches mich fansziniert hat und ich fürchte, dass aufgrund der AD&D-Lizenz-Situation eine Fortsetzung der Reihe mit dem Regelwerk nicht machbar sein und somit für mich uninteressant wird. Ob das Spiel nun in 3D oder 2D ist, halte ich für weniger wichtig. Gleiches gilt für die Frage, ob man die Story weiterführt (sie war nach ToB ja eigentlich abgeschlossen), ein Prequel basierend auf der Story macht, oder eine gänzlich neue Geshcichte erzählt. Was BG zum Hit gemacht hat, waren die AD&D-Regeln und ich fürchte, das kann man wohl abschreiben.

Das ist aber auch egal. Computerspiele sind nicht alles und die alten Hits wiederzubeleben, ist doch eigentlich Käse. Ich bin dankbar für Emulatoren, um die eine oder andere 8-Bit-Perle zwischendurch zu zocken, aber spontan fällt mir kein sinnvolles Remake von Computerspielen ein.

Hört, hört.

Ich setze noch einen drauf: ich kenne auch kein Film-Remake, das Sinn macht. King Kong von Peter Jackson? …ach Herrjeh. Godzilla von Emmerich? Der Name steht für Hollywood-Schund übelster Sorte. Und auch Dune wurde Ende der Neunziger / Anfang der Nuller Jahre nochmals neu verfilmt – er wurde verrissen, zurecht.

Nein, man soll sich an Meilensteinen erfreuen, aber möglichst die Finger von Neuauflagen lassen. Das geht schief.

Sie haben Skyrim förmlich in der Luft zerrissen. Fassen Sie Ihre Kritik in ein oder zwei Sätzen zusammen.

Skyrim ist das Beste, was man von der Mainstream-Industrie bekommen kann, wenn man bestimmte Fragen nicht stellt.

Nanu? Das überrascht mich jetzt doch.

Nein, nein, ich meine das ernst: es kann ja nichts dafür, daß der Computerspiele-Markt so ist, wie er nunmal ist. Dieses endlose Leveln in gigantischen Welten – die Leute stehen nun mal darauf, sie kaufen es wie blöde. Meine Kritik an Skyrim ist also eigentlich eine Kritik an dem niedrigen Anspruch der Konsumenten. Je gigantischer die Welten werden, in denen diese Spiele verortet sind, desto deutlicher wird die Beschränkung auf vier oder fünf Tätigkeiten, denen man stundenlang nachgeht. Mir fällt das auf, ich stelle da Fragen nach Alternativen. Weil ich das Genre nicht aufgeben möchte, so wie es viele andere tun. Die spielen einfach was anderes und sind glücklich, denn wenn ein Genre inhaltlich stirbt, bleiben die Zombies dabei und der neugierige Teil der User wendet sich etwas anderem zu.

Und das wäre?

Wie gesagt, ich halte Konsolen für die eigentlichen Spielemaschinen. Das Keyboard ist eigentlich die wahre Mauer zwischen Spieler und PC. Das Keyboard hat in den 4 Buchstaben, W, A, S, und D eine Bühne für die apokalyptischen Reiter bereitet.

Das Keyboard ist der Teufel.

So ist es. Das Keyboard steht mit der Symbolisierung von Sprache in Form von Graphemen sowieso schon für die indirekte Kommunikation. Wie soll so ein Gerät, so ein Symbolsystem ausgerechnet so etwas Lebensbejahendes, Direktes und Kindliches wie Spiel ermöglichen? Wenn Sie sich Kinder anschauen: die spielen ganz von alleine.

Aber sie sind auch begierig, zu lernen. Das Keyboard steht für Kultur und Sie vertreten ja immer die Meinung, dass der Mensch in der Lage ist, das archaische zu kultivieren, weil daraus eine bessere Welt erschaffen werden kann.

Ja schon, aber im Spiel dürfen wir auf eine kultivierte Art archaisch – man könnte auch sage: primitiv – sein. Im Spiel ist Wettbewerb OK, im Spiel ist töten OK.

Töten ist OK?

Wenn man das so sagt, klingt es natürlich hart, aber die ganzen Cowboy-Indianer-Spiele früher waren doch auch nichts anderes. Zu klären wäre da vielleicht noch die Frage, ob es OK ist, wenn Erwachsene das ebenfalls noch tun, z.B. in Ego-Shootern. Das sind aber Fragen nach dem Spielinhalt. Wir waren zunächst mal von der Steuerung ausgegangen, und die sollte so natürlich wie möglich sein.

So wie bei der Nintento Wii?

Genau, nur dass man mit der Zeit gemerkt hat, dass die Leute nicht ausschließlich „echte“ Bewegungen vollführen wollen. Viele haben sich mit der Zeit die „klassische“ Steuerung á la Joypad gewünscht. Aber das ist ja auch möglich.

Das mit dem Archaischen, dem Teufel im Keyboard und der Wii müssen wir noch ausführlicher besprechen. Jetzt gehe ich erst mal Skyrim zocken. Sie können ja den Emulator anschmeissen.

Hm…. nein. Obwohl… eine Runde Boulder Dash werde ich vielleicht doch noch mal spielen.

Na dann: viel Spaß!

Bruce Lee, das wahre Drachenblut: 8-Bit-Pixelhaufen hängen Skyrim ab.

(Fortsetzung von vorgestern)

Finden Sie diese Rückkehr (casual games) zum Spiele-Niveau von 8-Bit-Maschinen nicht irgendwo rückschrittlich?

Sie machen immer dieselben beiden Fehler: 1. Sie setzen technische Attribute mit Spielinnovation gleich. 2. Sie definieren „höher, schneller, weiter“ als Fortschritt. Zu 1.: Casual Games sowie manche 8-Bit-Perle können technisch eigentlich nicht mit den großen Produktionen heutiger Tage wie Skyrim / Crysis / Fussball Manager 13 usw. mithalten, aber trotzdem schafften und schaffen Sie es auch heute noch, Menschen stundenlang an den Bildschirm zu fesseln. 2.: Ich sagte ja bereits, daß gerade der Hyperrealismus in Skyrim abschreckend unrealistisch wirkt. Da bin ich mir jederzeit voll bewußt, daß das nicht wirklich passiert – weil es eben nicht perfekt ist.

Ein Beispiel: ich lief durch ein Haus und sammelte alchemische Zutaten – um hochzuleveln und weil ich ständig Geld für Zaubertränke brauchte. Da geschah es, daß ich vor einer Wand stand und die Kamera von schräg oben mein Inneres filmte. Ich sah also genau das, was mein angeblicher Bretone in Wirklichkeit ist: eine Schaufensterpuppe. Die Detailliertheit dieser Puppe – ich konnte erkennen, daß die Augen wie Glasaugen, also halbe Eierschalen modelliert sind – verstärkte die Zerstörung der Illusion noch mehr. Ich war mitnichten in Skyrim, sondern zuhause vorm PC, wo ich Zeit dafür verschwendete, meine Figur im Spiel stark genug zu machen, um das Spiel überhaupt erst spielen zu können. In dem Moment machte ich es aus.

skyrim01

Der Kopf ist weg? Nein: rechts unten, das grinsende Fass geht mit etwas Fantasie auch als Kopf durch (Skyrim).

Dasselbe passierte bei Ultima Underworld, wenn man nahe an Objekte herankam und diese völlig verpixelt waren. Dafür fesselte Ultima Underworld durch die Story und die ausgewogene Verteilung von Gegenständen. Da fand man nicht an jedem Eck irgendwelche magischen Waffen. Sowas war ein echter Höhepunkt.

ultimaunderworld

Pixelig? Sieht nur so aus. Im diesem fantastischen Spiel fällt einem das gar nicht mehr auf. Ultima kleckert nicht, es klötzchent (Ultima Underworld 2).

Lassen Sie sich doch durch den einen oder anderen grafische Bug nicht das ganze Spiel zerstören.

Es gibt zwei Sorten von Usern:  die einen sehen Skyrim und bewundern die Animation der Figuren und die Genauigkeit in der Gesichtsdarstellung, während die anderen (ich) genau dabei den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion erkennen. Solange ich den Unterschied zwischen Spielfigur und Schauspieler im Film erkenne, funktioniert die Illusion nicht für mich.

Sie schauen ja auch genau hin. Wer suchet, der findet.

Nicht wahr. Bei den alten Disneyfilmen sind die Figuren ja auch gezeichnet, aber in sich stimmig. Sie haben einen Ausdruck mit wenigen Strichen, sie bewegen sich so, wie es eigentlich gar nicht möglich ist, aber keiner würde auf die Idee kommen, das zu kritisieren. Da lasse ich mich gerne in eine andere Welt führen und bin überhaupt nicht pedantisch.

junglebook

Manch alter Disney-Film schafft mit wenigen Strichen, was modern CGI mit Trillionen Miliarden Pixeln nicht schafft: Lebendigkeit (Disney: Dschungelbuch).

Die Abstraktion ist dem Konkreten weit überlegen und Skyrim verfitzelt sich in der Suche nach dem Konkreten.

Dabei ist der Mensch doch gerade in der bildlichen Darstellung zur Abstraktion fähig: eine Karikatur bildet ja auch nicht fotorealistisch den Menschen ab und dennoch wird er erkannt. Gleiches gilt für die Spiele der 8-Bit-Ära – da werden ein großes und  kleines Klötzchen plus 4 Striche zu einem „Männchen“ (so haben wir es damals genannt), mit dem man sich voll identifiziert. Zusammen mit dem Rest des Settings, also der Umgebung und dem ständig präsenten Ziel entsteht eine Welt. Das kleine gelb-schwarze Pixelhäufchen sieht nicht aus wie Bruce  Lee, es ist Bruce Lee, obwohl es nur zwei oder drei Moves hat. Aber die Umgebung sowie die Klarheit zwischen Gut und Böse motiviert weit mehr als die pseudo-historisch/-gesellschaftliche Ausdifferenzierung verschiedener Fraktionen in Skyrim.

Bruce-Lee_C64„Kompliziert“ und „viel“ kann jeder. Aber wer kann mit einem Häufchen Pixeln in 2 Farben Bruce Lee darstellen? (Bruce Lee, C64)

Es geht einfach ums Computerspielen und Computerspiele können bestimmte Dinge einfach sehr gut (wie z.B. das interaktive Element vorgaukeln) und manche Dinge bestenfalls mittelmäßig (z.B. Geschichten erzählen).

Geschichten erzählen – wieso soll das in Computerspielen nicht gehen?

Weil Bücher und Filme das viel besser können.

Aber Bücher und Filme sind linear. Da wird eine lineare Handlung vorgesetzt und der Konsument hat keinerlei Einfluss auf das Geschehen!

Das ist bei Skyrim doch genauso. Dann hat der Mensch eben die Wahl zwischen einer Handvoll verschiedener Spiel-Ausgänge, aber diese sind genauso festgelegt wie bei einem Film oder Buch. Nur, daß sich bei Film und Buch gar nicht die Frage stellt, ob der Konsument angeblich das Ende bestimmen kann. Soll er gar nicht. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, daß die Identifikation mit dem Protagonisten durch das „Bestimmen“ oder angebliche Bestimmen des Ausgangs hergestellt wird. Falls wir ein Setting wie in einem Film oder Buch ohne Handlung vorfänden, wenn wir also aufgefordert würden, dort zu handeln, dann reproduzierten wir eigentlich nur unsere bereits vorhandenen Verhaltensweisen und das wäre langweilig. Die Stärke eines Buches oder Films liegt darin, daß die Akteure Dinge tun, die wir so nicht erwarten bzw. die unserem Streben nach Sicherheit widersprechen. Die wollen manchmal gar nicht überleben. Der Ausgang ist ungewiss. Weil der Autor des Buches seine Idee verfolgt, als ganze Person. Er kann und darf seine ganz persönliche Sicht der Dinge auf seine Geschichte übertragen, was Segen und Fluch ist – er kann ja auch scheitern damit. Bei einem guten Buch aber packt uns der Autor, selbst, wenn er eine andere Meinung vertritt als wir. In einem Computerspiel soll der Spieler glauben, er könne etwas selbst bestimmen und der Programmierer gibt vor, kein vorgefertigtes Ende zu präsentieren. Das ist aber nicht wahr. Natürlich tut er das – es ist als würde ein Buchautor dasselbe Buch fünf mal schreiben, mit jeweils unteschiedlichem Ende. Und letzlich wäre es doch alles seine Sicht, die er uns präsentiert. Deshalb schreibt aber auch kein Autor ein Buch mehrfach, mit verschiedenen Enden, er schreibt eines. Man weiß nicht, was er will, überleben, sterben, was auch immer. Der Akteur bei Skyrim will aber sehr wohl leben und es gibt trotz aller Vielfalt nur eine einzige Art, wie das Spiel ausgeht: man besiegt die Drachen und befreit das Land von der Knechtschaft.

Und was ist da jetzt bei Bruce Lee auf dem C64 anders?

Nichts. Aber es wird einem auch nicht vorgekaukelt, daß es anders wäre. Das schafft Raum für Überraschungsmomente anderer Art. Als ich das erste Mal in den Raum mit den riesigen von unten nach oben wandernden Tapeten (oder was immer es auch war) gekommen bin, war ich echt überrascht. Das hat mich beeindruckt. Es war letztlich ein Geschicklichkeitstest: man mußte im richtigen Moment draufklettern, um von der Tapete nicht an die Stacheln am oberen Bildschirmrand gedrückt zu werden. Da hatte ich überhaupt gar keine Wahl, das anders als vorgesehen zu machen, und trotzdem hat es mich motiviert. Die Motivation war da, weil die einzige Option, es zu schaffen, gut gemacht war. Und als ich Bruce Lee durch hatte, ist die Motivation natürlich abgeflaut. Aber das war doch auch schön damals: man hatte es durchgespielt und gut wars.

Sie haben gut reden… „gut wars“… das sagen Sie jetzt im Jahre 2013, wo es überhaupt kein Problem ist, kostenlos an tausende von Spielen im Netz zu kommen. 1984 war man froh, Spiele länger spielen zu können als die Stunde, in der Bruce Lee geschafft ist.

Aber haben wir nicht trotzdem damals Stunden mit Bruce Lee verbracht? Wir schaffen dieses Spiel heute so schnell, weil es uns natürlich nicht mehr überrascht. Die Grafik, die Steuerung, der Sound sowie der „he, das ist ja Bruce Lee!“-Effekt, das hat damals alles so fasziniert, daß man tausend Bildschirmtode gestorben ist, bevor man es durch hatte. Wenn man dazu noch, wie ich, Geschwister hatte, die nach jedem verlorenen Spiel ebenfalls spielen wollten, hat sich so etwas in die Länge gezogen, aber langweilig war es keinem von uns.

OK, Sie sagen, der technische Realismus scheitert daran, daß er die Realität sowieso nicht abbilden kann. Ihrer Meinung nach muß die Perfektion nicht vorangetrieben werden, sondern sogar zurückgeschraubt. Computer werden aber immer leistungsfähiger. Denken Sie an Gollum in der Herr der Ringe-Verfilmung. Das funktioniert doch.

Für mich nicht. Mich hat Gollum im Film immer schon genervt. Auch diese bescheuerte Stimme als Mischung aus Mainzelmännchen, Donald Duck und Roboter, furchtbar. Eigentlich geht der Film-Gollum nur dort in Ordnung, wo richtige Schauspieler dabei sind. Aber Gollum solo ist genauso trivial wie die Umsetzung seiner Persönlichkeitsspaltung.

smeagol

Ein bißchen Schminke und falsche Zähne tuns auch: dieser Smeagol ist zwar auch ordentlich übertrieben, aber noch OK. Den Rest gibt mir die hemmungslose Verwendung von CGI. Den Film-Gollum noch ernst zu nehmen, ist ein echte Herausforderung. (Herr der Ringe, Peter Jackson)

Dieser Weg, alles so realistisch wie möglich darzustellen, ist ein Irrweg. Erstens kostet er enorme Summen von Geld – weswegen sich auch nur große Firmen daran wagen können und zweitens brauchen wir das doch gar nicht. Menschen haben Phantasie, die läßt sich doch aktivieren. In Spielen wie „Limbo“, um mal ein aktuelles Beispiel zu nennen, hat man gänzlich auf Farben verzichtet, es ist schwarz-weiß. Und bereits die Screenshots im Netz beeindrucken mehr als diese bescheuerten Draugrs bei Skyrim, die nichts anderes sind als Zombies.

Es gibt inzwischen wohl hunderte, wenn nicht tausende von 3D-Action- und Rollenspielen, die von ihrer Größe in bezug auf Code und abverlangte Rechenleistung „mehr“ bieten als Limbo, aber die berühmte Szene, in der sich die riesige Spinne an den kleinen Bub ranschleicht, bleibt mehr hängen als jeder noch so faltige Zombiefürst aus den 3D-Grafikboliden.

Limbo-spider

haaaa…..HAAAAAAA……bibber… (Limbo)

Schauen Sie sich Paradroid an. Schon 1986 sagte Boris Schneider in „Happy Computer“: „Grafisch gibt Paradroid nicht viel her…“ aber trotzdem hatte man das Gefühl, dieser kleine Droide zu sein, der auf irgendeinem Deck eines großen Raumschiffes umherirrt. Ständig hatte man Angst, dem 999-Roboter zu begegnen, und man bekam einen gehörigen Schreck, wenn es tatsächlich passierte.

Paradroid kann man heute noch spielen und Boris Schneider bewertete das Spiel damals mit „super“.

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Bilder sagen mehr als Worte, aber dieses Spiel muß man einfach gespielt haben, um zu verstehen, wieso es einer der größten C64-Hits überhaupt geworden ist. (Paradroid, Andrew Braybrook, C64)

Sind sie ein Retro-Gamer?

Nein, natürlich geben diese Spiele nicht mehr so viel her und wenn man sie so oft durchgespielt hat wie ich, ist es wie mit einem Buch: selbst ein gutes liest man mit der Zeit immer seltener. Aber das muß ja auch nicht sein. Lieber spiele ich begeistert ein Spiel durch und schließe es weg, als wie bei Two Worlds oder Skyrim stundenlang den gleichen Spielablauf zu variieren.

Und auf der anderen Seite gibt es tatsächlich Spiele aus den 80ern, die mich heute noch regelrecht fesseln. Boulder Dash z.B. ist völlig faszinierend. Ich verbringe auch heute noch immer wieder Zeit damit, zumal es auf meinem Netbook mit Emulator gut läuft und per Tastatur entsprechend gut zu steuern ist. Die Idee ist einfach genial. Diese grundlegende, abstrahierte Physik im Kleinen simuliert vollständig eine eigene Welt. In Skyrim habe ich drei oder vier Abstufungen an Verletzungen beim Springen aus bestimmten Fallhöhen, und dennoch ist es unrealistsch. Wäre ich – wie dort – mit 600 Pfund Rüstung, Eisenerz und Schmetterlingen im Glas ausgerüstet und spränge, reichten schon 2 Meter Fallhöhe, um mir sämtliche Knochen zu brechen.

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Sah schon 1984 nach so gut wie nix aus, fesselt aber noch 2013 vom ersten Moment an. (Boulder Dash, C64)

Spiele werden auch diese Faktoren eines Tages berücksichtigen können.

Und selbst dann werden sie die Realität nicht vollständig simulieren können. Dieser Wettlauf ist der Falsche, denn die Komplexität der realen Welt können wir nicht durch Details nachbilden. Das Allgemeine, das Abstrakte erst schafft Kommunikation. Ob das jemand als objektiv exakt das Gleiche empfindet, so, wie wir es tun, ist unerheblich. An dieser Frage – ist rot wirklich rot? – beißen sich Erkenntnisphilosophen seit Jahrtausenden die Zähne aus und warum sollen ausgerechnet Computer diese Frage beantworten können?

Wir müssen das Subjektive in der Kommunikation als gegeben hinnehmen, so wie bei Boulder Dash: das ist ein Stein, weil ich es behaupte. Das ist Gras, Du bist dieses kleine Männchen und Du bewegst dich schrittweise in vier Richtungen. Sammle Diamanten, aber berühre die Gnome nicht. Manche verwandeln sich in Diamanten, wenn ihnen ein Stein auf den Kopf fällt oder wenn sie die Amöbe berühren. Viel mehr Regeln gibt es bei Boulder Dash nicht, aber ich behaupte: gerade die Abstraktion schafft tausende von möglichen Levels und wenn Sie im Netz mal nachforschen, finden Sie wahrscheinlich zehntausende Levels (wenn man die Plagiate und Remakes mal mitzählt) einer weltweiten, immer noch aktiven Szene.

Jedes Märchen geht davon aus: „es war einmal…“ – das ist eine Ansage. Da behauptet jemand „das ist“ und es funktioniert seit Jahrtausenden. Die sinnlose Suche nach Objektivität verstellt uns den Blick für die Kraft der Subjektivität.

Wie soll man diese subjektive Kraft heute noch in großen Companies etablieren?

Das geht kaum noch. Diese kleinen, verrückten Perlen, die nur deshalb entstanden sind, weil Programmierer für sich in ihren abgedunkelten Zimmern gewurschtelt haben und wo kein Programmdirektor reingepfuscht hat – die findet man bei Mainstream-Produktionen nicht mehr. Wie sollte man auch? Da herrscht ein enormer Druck, den Massengeschmack zu befriedigen und Experimente interessieren herzlich wenig.

Deshalb gibt es ja auch die von mir so bemängelte Konzentration auf vier oder fünf Genres: Computerspiele, so scheint es, haben sich zwangsläufig in eine bestimmte Richtung entwickelt. Das Element des Sammelns, des Erforschens und Levelns muß eine bestimmte Ader in den Rollenspielern ansprechen, ebenso wie jenes des Überwindens von Gegnern in Ego-Shootern. Sportspiele sind fast nur noch Rennspiele oder Fussball. Früher gab es sogar Baseball-Simulationen am C64. Da sind die Konsolen den PCs voraus. Die Hersteller von Konsolensoftware haben einfach kapiert, daß Spielen vor allem erstmal nur Spaß machen muß. Da werden weit mehr Simultan-Spiele gegen menschliche Gegner produziert, während man am PC im Großen und ganzen alleine spielt. Online ist das zwar etwas anders, aber eben doch nicht das Gleiche wie mit einem echten Gegner, der neben mir im Wohnzimmer sitzt.

Sammeln, die Prinzessin befreien, erforschen, als erster über die Ziellinie fahren: tun wir in Computerspielen das, was wir als Kinder gerne wollten, nur ein bißchen echter?

Das wird immer unechter, je länger man dabei ist. Für Teenies ist das natürlich toll. Denen reicht auch eine völlig triviale Story, denn sie können ja auf dieser Plattform u.a. ihren Sammeltrieb befriedigen. Diesen und andere Triebe hat der Markt im Grunde erforscht und deren Befriedigung durch im Prinzip immer dasselbe Spiel in neuem Gewand reicht wohl aus, um die Industrie am Leben zu erhalten – weil immer neue Generationen von Teenies heranwachsen, denen eine mittelmäßige Story und triviale Charaktere ausreichen. Die Industrie scheint nicht schlecht davon zu leben, sonst würde sie es nicht machen. Sie macht sich ja nicht mal mehr die Mühe, das Szenario neu zu erfinden. Stattdessen werden alte Reihen immer weiter fortgesetzt.

Da sollten wir uns doch beim Markt bedanken: er gibt uns das, was wir wollen und zwar immer besser.

Nein. Er tötet die Faszination durch Massenware. Dabei ist es kein Problem, wenn der Konsument sich dessen bewußt ist, daß das Hollywood ist. Solange er sich darüber bewußt ist. Schlimm wird es nur, wenn Leute so etwas wie Skyrim mit Baldurs Gate oder gar Ultima in Verbindung bringen, nur, weil die Story von Krieg und Intrige erzählt oder weil man kochen kann, so, wie man in Ultima backen konnte.

Es gibt aber auch im Massenmarkt immer wieder überraschende Spielideen.

Schon, aber warum darauf warten? Im Untergrund gibt es haufenweise witzige, eigenartige Spieideen. Da eröffnen sich Welten, sobald man sich darauf eingelassen hat bzw. sich von der Erwartung, im Massenmarkt Eigenständigkeit zu finden, verabschiedet hat.

D.h. die Beschäftigung mit Retro ist eigentlich die Beschäftigung mit Subkultur, denn in den 80ern waren Massenmarkt und Subkultur noch näher aneinander. Die technischen Beschränkungen machten ein Team von 200 Leuten unnötig, und umgekehrt konnte ein einzelner Programmierer noch die Welt auf den Kopf stellen. Es gab einfach immer wieder diesen „es geht ja doch anders“-Effekt. Ich sage das ganz ohne Wehmut, denn die Subkultur lebt ja immer noch. Aber ebenso halte ich es für wichtig, Retro zu pflegen. Das heißt für mich nicht lapidar „früher war alles besser“, sonst landet man schnell in der Opa-Ecke und jeder denkt, man sei dieser Ansicht, weil man selbst noch jung war und sich die Jugend zurückwünscht.

Nein, so ist es nicht. Es geht viel mehr darum, daß es so etwas wie eherne Weisheiten im Spielemarkt gibt und das das durch den Vergleich der Retro- mit der heutigen Spieleszene zutage tritt. Eine Weisheit ist: Grafik ist nicht alles. Computerspiele sind ohne Grafik zwar undenkbar und natürlich ist sie es, die die erste Faszination ausübt. Aber diese Faszination kann so verdammt schnell verflogen sein und wenn man nicht aufpasst, setzt die Langeweile ein.

Eine weitere Weisheit ist: hüte das Eigenartige. Die tollsten Spiele klingen, verbal umschrieben, äußerst befremdlich. Ein Roboter, der andere Roboter „übernimmt“, indem er deren Schaltkreise manipuliert – das klingt doch seltsam und langweilig. Aber wenn man Paradroid spielt, fesselt es. Oder die Lemminge – erklären sie mal jemandem, der es nicht kennt (was selten vorkommen wird), was man da so machen muß… 100 dümmliche grünhaarige Männchen davon abzuhalten, ins Verderben zu rennen. Jeder wird sie für entrückt halten. Aber setzen Sie jemanden davor und schon sieht es anders aus.

Noch eine Weisheit: vergiss die Gesetze des Marktes. 1997 waren Rollenspiele völlig out. Was meinen Sie, was Black Isle mit Baldurs Gate gemacht hätten, wenn sie sich darum gekümmert hätten, wie es um Rollenspiele steht? Es wäre nie herausgekommen.

Gutes Beispiel: Baldurs Gate. Es gibt ja nun die Enhanced Version. Sie soll der Auftakt zu weiteren Umsetzungen der Reihe sein, so daß – bei einem eventuellen finanziellen Erfolg – das lange ersehnte Baldurs Gate 3 in Angriff genommen werden soll. Wie sehen Sie das aus ihrer Auffassung von Retro – also daß man das Eigenartige darin finden soll, das Subkulturelle usw. Baldurs Gate war bereits damals ein auf den Massenmarkt zugeschnittenes Produkt. Ein riesiger Programmiererstab ist daran gesessen, das Budget war bereits beim ersten Teil alles andere als „subculture“. Dennoch sind Sie der Meinung, daß dieses Spiel eines der besten RPGs ist, das es je gab.

(Fortsetzung folgt.)

Retro, Skyrim, C64: was mit neuen Spielen nicht stimmt…

(Fortsetzung von gestern)

Nein, nein, vergessen Sie mal ihr Anti-Gerede gegen alles! Bei Two Worlds (das mir übrigens auch Spaß macht) tritt das von Ihnen beschriebene Prinzip im Großen und Ganzen unverblümt zutage. Bei Skyrim gibt es eine epische Story, die mit dem Rest des Elder-Scrolls-Reiches verwoben ist. Man kann Erze schürfen, eigene Waffen schmieden, sich unterschiedlichen Fraktionen anschließen, zum Dieb, Kämpfer oder zum Magier werden, man kann sogar verschiedenste Lebensmittel zu unterschiedlichen Gerichten kochen und noch vieles mehr. Das ist eben nicht so wie bei Two Worlds, das hat Tiefe, das macht Sinn.

Feyd holt tief Luft und antwortet:

Ob ich mich jetzt durch das Schmieden von Rüstungen oder das simple Plätten von Monstern hochlevele, um dann eben noch effizienter Rüstungen schmieden bzw. Monster plätten zu können, ist egal. Das ist immer das gleiche Prinzip in neuem Gewand.

Na, selbst, wenn es das wäre… darum geht’s eben bei Computerspielen: eine anfangs übermächtige, gewaltig erscheinende Aufgabe am Ende eben doch zu meistern, indem man während des Spiels besser wird. Und auf dem Weg dahin lernt man immer neue Verhaltensweisen.

Das halte ich für einen Trugschluß. Das Schmieden von Rüstungen sowie das Plätten von Monstern hat denselben Effekt auf das Hochleveln. Es würde mich nicht wundern, wenn das im Kern dieselben Programmroutinen sind, die die Tätigkeit des Spielers auswerten und in Erfahrung und Levelaufstieg umrechnen.

Das Gleichgewicht von Herausforderung und Spielbeherrschung ist nur eine Facette vom Spiel und heutige Rollenspiele reduzieren sich im Spielprinzip ausschließlich darauf.

Wirklich Spaß macht doch ein Spiel, wenn ich einen Weg finde, meine eigene, persönliche, eigensinnige Art und Weise, die Aufgabe zu meistern, entfalten kann.

Stattdessen habe ich die Wahl zwischen einer Palette von Optionen, die jeder Spieler auf der Welt gleich nutzt. Eine Zwergenrüstung hat immer die gleichen Werte, sieht immer gleich aus, hat immer den gleichen Grundverkaufswert, egal, ob ich oder XY am anderen Ende der Welt sie „geschmiedet“ hat.

D.h. die Fülle an Optionen allein schafft noch keine Komplexität im Spielverhalten.

Gut, was schafft denn Komplexität?

Wenn ich das so einfach sagen könnte, würde ich selbst Spiele machen. Aber auf jeden Fall ist diese Komplexität gegeben, wenn ich ein klassisches Brettspiel wie „Die Siedler von Catan“ oder „Monopoly“ spiele.

Sind die Unterschiede da wirklich so hoch? Wird das von XY am anderen Ende der Welt nicht auch so gespielt wie von Ihnen?

Eben nicht. Denken Sie nur an den Raum, den der Handel zwischen den Spielern bei den Siedlern bekommt. Sobald das anfängt, kommt es zu den aberwitzigsten und unterschiedlichsten Situationen.  Da kann man gar nicht sagen, was komplexer ist: das Spiel zwischen Fremden, bei denen die objektiven Handelskompetenzen mehr Raum einnehmen oder das zwischen guten Freunden, bei denen die soziale Beziehung zum Tragen kommt. Der Handel zwischen Paaren beispielsweise ist das witzigste und ärgerlichste, da mit komplexeste Element in Gesellschaftsspielen wie Siedler oder Monopoly und so etwas finde ich bei Computerspielen einfach nicht.

Gehe ich bei Skyrim zu einem Händler, läuft das – unabhängig davon, daß es eine Fülle an Variationen gibt – immer gleich ab. Die Täuschung findet nur anfangs statt – wenn man sieht, daß es viele Händler gibt, daß die einem freundlich oder unfreundlich gesonnen sein können, daß man mit Ausrüstungsgegenständen und Fähigkeitswerten bessere oder schlechtere Preise erzielen kann. Da ergibt sich eine Palette von Möglichkeiten, aber deren Endlichkeit ist schnell erkannt und das Spiel beginnt, zu langweilen. Aber das Allerschlimmste ist die vermeintliche Stärke des Spiels: seine schiere Größe.

Wie meinen Sie das? Haben Sie nicht eben noch gesagt, daß die Endlichkeit der Möglichkeiten, also eigentlich eine begrenzte Größe, das ist, was Sie stört? Ist es da nicht von Vorteil, daß Skyrim riesig ist?

Wie gesagt, es ist umgekehrt. Weil das Spiel riesig ist, fällt einem viel mehr auf, daß sich das Prinzip wiederholt. Wenn man zehn Dungeons gesäubert, sich hochgelevelt, die Schätze verkauft und sich neue Ausrüstung gekauft hat, geht man los und versucht sich an stärkeren Gegnern. Dann merkt man schnell, daß der Level wieder nicht ausreichend ist, ebenso die Ausrüstung. Man müßte also nochmal zehn Dungeons säubern, um sich hochzuleveln und wieder neue Ausrüstung zu kaufen, um dann endlich größere Aufgaben zu meistern. Und weil Skyrim so riesig ist, hat man auch alle Gelegenheit dazu. Dieser ganze Schnickschnack, der Computerspiele so faszinierend macht – die grafische Präsentation, das Gefühl von Interaktion, dieses Eintauchen in eine andere Welt – das hält nur begrenzt. Man gewöhnt sich daran, und zuletzt durchschaut man nicht nur die Konstruktion, sie beginnt zu nerven. Wenn ich auf Level 30 Schmiedekunst anwende, nervt mich nichts mehr, als das warten darauf, daß der Schmied von seinem Amboß weggeht. Das soll realistisch wirken, schließlich kann man ja nicht an einen Amboß, der gerade benutzt wird. Aber es nervt einfach nur. Man schaut sich zu diesem Zeitpunkt dann diese Animation zum vielleicht 300. Mal an und man beginnt, den Schmied zu bekämpfen. Einfach nur, weil man will, daß er der Programmierer ist, der das verbrochen hat, oder einfach nur, um irgendetwas anderes zu tun und seinen Frust über diesen idiotischen Hyperrealismus loszuwerden, der völlig kontraproduktiv wirkt.

Aber der führt doch auch dazu, daß man in einer riesigen Landschaft mit überzeugend realisierter Schneefallgrenze im Gebirge steht. Wasser fließt fantastisch animiert durch die Gegend und Elche und Füchse kreuzen den Weg – das zieht einen doch in die Geschichte.

Ach ja, richtig: der Fuchs.

Die Füchse. Es sind mehrere. Dutzende.

Glauben Sie mir, und ich habe von Programmierung wenig Ahnung: es ist immer derselbe Fuchs. Dieselbe, unnötige Programmroutine, die mir vorgaukeln soll, daß ich gerade nicht vor meinem Schreibtisch, sondern in Skyrim bin.

Natürlich ist es eine Programmroutine. Mir ist klar, daß das kein echter Fuchs ist. Aber im Spiel, mit allem anderen dazu, mit den Bergen, Flüssen, Passanten, dem Tag und der Nacht, der Natur und eben allem anderen verschmilzt alles zu jener Illusion, die für mich funktioniert.

Das täte es auch für mich, wenn das Spiel kürzer wäre.

Aber ist nicht die epische Breite…

Bitte, nicht schon wieder. Die epische Breite ist epische Langeweile. Wäre das Spiel kürzer, straffer, dann würde man bestimmte Dinge nicht hundertfach machen und dann wäre die Illusion da.

Niemand hält Sie davon ab, die Hauptquest straff durchzuspielen – ohne die ganzen Nebenquests, derer Sie so schnell überdrüssig werden.

Können Sie mir verraten, wie das gehen soll: die Hauptquest straff durchspielen? Da scheitert man verdammt schnell an der eigenen Schwäche. Die „epische Breite“ ist kein Angebot, sie ist ein Muß. Ich muß extrem viel Zeit in Skyrim mit all diesem Firlefanz wie Alchemie und Schmiedekunst, Taschendiebstahl und Handel verbringen, um auch nur einen zweiten Schlag bestimmter Gegner zu überleben. Das macht keinen Spaß, das ist Quälerei.

Also Sie sind der Meinung, bei diesem Spiel habe man eine Idee – oder besser: die Standards der Rollenspiel-Ideenwelt – extrem aufgebauscht.

Ich würde eher sagen: extrem ausgedünnt. Deswegen braucht man ja auch zig Programmierer und Designer dafür: nicht zum Denken, sondern zum Ausformulieren eines immer gleichen Gedankens auf unterschiedliche Weise. Das hat man gründlichh übertrieben.

Richtig. Kommen Sie deshalb auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: die Retro-Szene. Was war früher anders als heute bei Skyrim?

Natürlich gab es auch damals schon den Versuch, epische Storys in unüberschaubaren Welten zu schaffen. Aber erstens wurde das auch sauberer gemacht und zweitens haben die Spiele dort, wo man es nicht gemacht hat, spaßiger. Die Beschränkung auf 64 KB ließ einen Programmierer gar nicht erst auf die Idee kommen, eine Idee auszudünnen, im Gegenteil: er mußte in knappe Speicherressource so viel Spielspaß wie möglich reinpacken.

 

Einspruch: als der C64 rauskam, galt er als Ressourcengigant. 64 KB und 16 Farben waren 1982 enorm.

Das war 3 Jahre später schon ganz anders. Und die vermeintliche Schwäche, also der Umstand, daß eben NICHT die Technik besser wurde, wirkte sich positiv auf die Spieleentwicklung aus. Auch 1985 und auch 2 Jahre später noch stand bei den meisten noch ein C64 zuhause, der kaum noch mit seiner Technik überzeugen konnte. Überzeugen konnten hingegen Spiele, die Spaß machten und die wurden auch produziert.

Idealisieren Sie nicht diese Zeit zu sehr? Es gab auch richtige Gurken wie Knight Rider oder Miami Vice. Oder denken Sie an die Iso-Action-Adventures. Die glichen sich wie ein Ei dem anderen.

Stimmt, es gab bereits damals schon einen Markt, der regelmäßig Mist produzierte. Ich rede nur von der Dimension, nicht vom Prinzip. Alles war kleiner, überschaubarer und das ist der Punkt: weil der C64 so lange nicht von der Bildfläche verschwand, war genügend Zeit für diese riesige Szene da, neben viel Müll auch so einigen heißen Scheiß zu produzieren. Heimcomputer kaufte man sich damals nicht mal eben so wie einen PC heute. 17 bis 30 Millionen C64 sollen verkauft worden sein und jahrelang haben Programmiere sich damit auseinandergesetzt. Da mußte auch viel Gutes dabei rauskommen, neben all dem Mist natürlich.

Der Umstand, daß die Hardware sich ständig verbessert und auch verkauft wird, führt dazu, daß sich die kommerzielle Spieleszene nur noch mit der Nutzung – nicht der Ausnutzung wie damals beim C64! – technischer Attribute befasst. Das Interessante, meine Hoffnung Schürende ist aber, daß die technische Entwicklung zwar ungebremst weiter geht, die Frage der technischen Nutzung aber allmählich beginnt, unwichtiger zu werden. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem Spiele heute technisch so ziemlich alles können – hohe Framerate in HD? Kein Problem. Bombast-Surround-Sound in 24 Bit-Qualität? Lange schon da. Das wird inzwischen selbst den Kids zu langweilig und neue Plattformen wie Casual-Games auf dem Handy lösen den klassischen Markt für Computerspiele langsam ab.

Finden Sie diese Rückkehr zum Spiele-Niveau von 8-Bit-Maschinen nicht irgendwo rückschrittlich?

(Fortsetzung morgen)

Heimcomputer, Retro, Power Play – Feyd klärt auf.

Herr Braybrook, Retro Gamer, 25 Jahre Power Play, Spiele-Veteranen-Podcast + Seite usw.:  im Moment scheint es geradezu eine Retro-Welle bei Computerspielen zu geben.

Scheint so, aber bis auf die Paper-Publikationen gab es das andere auch schon vorher. Der Spiele-Veteranen Podcast besteht seit nunmehr 3 oder 4 Jahren und ging aus der Seite „www.kultpower.de“ hervor. Diese Seite war das private Projekt eines altgewordenen Computerspiele-Zeitschriften-Nerds, der begonnen hatte, die Artikel von Happy-Computer, Power-Play und weiteren zu scannen und ins Netz zu stellen. Das war in Deutschland lange Zeit die zentrale Plattform für Retro in bezug auf Zeitschriften. Über den Podcast bzw. weitere Seiten wurde der Schritt zum kommerziellen Retro-Journalismus nun vollzogen, aber die Szene war längst schon da.

Wie sehen Sie diese letzte Entwicklung?

Zunächst hielt ich es für reine Geldmacherei.

Und nun?

Wie das so ist: man läuft 99 mal an diesen Zeitschriften vorbei und beim 100. mal beginnt man dann, darin zu blättern. Als ich das bei der „Retro Gamer“ gemacht habe, war ich positiv überrascht.

Was hat Sie zum Kauf bewogen?

Es macht mir inzwischen mehr Spaß, darin zu blättern als in aktuellen Zeitschriften. Der Markt beschäftigt sich nur noch mit der Frage, welche Grafikanforderungen neue Ego-Shooter stellen oder welche Extra-Features man bei seinem Lieblings-MMORPG mit echtem Geld dazukaufen kann. Um ehrlich zu sein: ich habe mir, wenn überhaupt, aktuelle Spiele-Zeitschriften nur noch wegen der beigelegten Vollversionen gekauft, und da waren die schlecht gemachten so gut wie jene, die ein scheinbar hohes Niveau haben. Bei der Retro Gamer fand ich nicht nur Hintergrundwissen, sondern auch eine seltsam charmante Mischung aus Nostalgie und Distanz zu der Szene vergangener Zeiten – die Metaebene, sozusagen.

Was ist mit der Qualität der Seiten? Sie sind dicker und leicht glänzend.

Den Schnickschnack braucht kein Mensch. Wenn das Heft durch einen Ersatz mit dünneren Seiten billiger wird, begrüße ich das.

Sie sagten selbst, daß diese Hefte dafür gedacht sind, aufgehoben zu werden. Dickeres Papier ist dafür besser geeignet.

Ich gehe davon aus, daß Menschen, die sich mit 25 Jahre alten Computerspiele-Zeitschriften beschäftigen, wissen, wie man Zeitschriften eine Weile aufheben kann – auch wenn sie aus dünnem Papier sind.

Na gut, Sie sind also gelangweilt von der aktuellen Presse, die sich nur noch wiederholt. Aber tut das die Retro-Szene nicht noch weit mehr? Wenigstens lesen Sie auf Gamepro, Computer Bild und PCAction etwas über neue Titel. Was ist also das Interessante an der Beschäftigung mit 30 Jahre alten Spiele-Rezensionen?

Da muß man trennen. Es gibt zunächst einmal die pure Nostalgie, d.h. das Blättern in alten Zeitschriften mit dem „ach ja richtig, so war das damals“-Effekt. Das macht eine Weile Spaß und ich z.B. finde es witzig, Anzeigen oder Tests der neuen 5 MB-Festplatte für 3000,- DM zu entdecken. Da kommt man schnell auf eine höhere Ebene in Form von Analyse oder gar Kritik und das ist dann die langfristig motivierende Ebene. Eine Happy Computer aus den 80ern wäre das Langweiligste, was es gibt, wenn man da nicht den Vergleich zu heute hätte und den habe ich.

Sie denken da an den Umstand, daß jede Generation ihre Zeit für eine Art Krönung der technischen Entwicklung hält.

Ja. Gerade die Entwicklung im Festplattenbereich, aber auch bei der Geschwindigkeit von Prozessoren war im Grunde schon immer die gleiche: in einem gewissen Zeitraum verdoppelt sich die Leistung. Was dann heißt, daß Begriffe wie „riesig“ oder „schnell“, die in diesem Zusammenhang ja oft als Kernbegriffe gebraucht werden, ihre Bedeutung verlieren. Gleiches gilt für die Preise. Bei Wikibooks fand ich folgenden Satz:

„Bei der ST506 (Seagate 1980, 5 MB) kostete 1 Megabyte noch 250 €. Der Preis ist pro Jahr um 40% gefallen, auf heutigen Festplatten kosten 1000 Megabyte etwa 5 Cent.“ Begriffe die Leistung betreffend sind somit völlig bedeutungslos.

Nicht in der Gegenwart, in der sie ausgesprochen oder gedruckt  werden. Wenn Sie heutzutage davon sprechen, daß eine Festplatte mit 2 TB riesig ist und mit 90 € günstig, dann ist das heute nun mal so.

Aber zeichnet den Menschen nicht aus, daß er einen Begriff von gestern und morgen, von der Vergangenheit und der Zukunft hat?

Schon, aber warum sollte der Redakteur einer Hardware-Zeitschrift darüber berichten, was der neue Prozessor von Intel in 5 Jahren noch wert ist?

Das muß er ja nicht. Es geht nur um die Einordnung dessen, was er tut und was seine Leser tun, es geht um Bewusstsein. Der pure Informationsfluss von Verkäufer zu Kunde ist nicht die einzige Komponente in diesem Redakteur-Leser-Austausch. Da wird letztlich ein Technologie-Mythos geschaffen und aufrecht erhalten. Mit diesem Prozessor wird so und soviel schneller und effizienter Arbeit verrichtet usw. Das impliziert bereits, daß Fortschritt technologisch ist und daß er einen Nutzen haben muß.

Na, das ist doch gut! Der Mensch benutzt seinen Verstand, um nützliche Dinge zu tun oder noch besser, noch schneller  zu tun.

Ja, aber was ist der Menschheit wirklich nützlich? Noch mehr Effizienz? Noch mehr Produktivität?

Herr Braybrook, sie sind ein Träumer. Die Konkurrenz schläft nicht. Wenn wir unsere Leistung nicht verbessern, kommen andere mit besserer Leistung und grasen den Markt ab.

Aber merken Sie nicht, daß diese Konkurrenz künstlich geschaffen ist? Daß sie Gewinner und Verlierer schafft, selektiert und was das Schlimmste ist: daß sie kein Ende hat?

Das ist ein dummer Gedanke. „Stell Dir vor, es ist Markt, und keiner geht hin“.

Ist es klug, den Markt nur deshalb gut zu bewerten, weil man selbst von ihm profitiert? Was ist mit den Verlieren? Fragen Sie doch mal die Verlierer des globalen Marktes, was die davon halten. Gehen sie nach Südamerika und versuchen sie, denen die Vorzüge des globalen Marktes näher zu bringen.

Meinen Sie, es ist besser, wie ein Tier ohne Technik, ohne Vernunft vor sich hin zu wurschteln? Kein Wettbewerb, kein Fortschritt.

Und wie wäre es, wenn wir unsere Vernunft einmal dazu einsetzen würden, Gutes zu tun oder die Probleme sozialer Ungleichheit anzugehen? Den Rassismus zu bekämpfen? Kriege zu verhindern und die der Dritten Welt bei der Entwicklung einigermaßen unabhängiger und krisensicherer Wirtschaftssysteme zuhelfen? Wäre das kein Fortschritt?  So wie es aussieht, hat die Vernunft allein uns noch nicht auf eine neue Daseinsebene gehoben.

Dieses Interview hatte eigentlich mal den Ansatz, die Retro-Welle zu beleuchten.

Das hat absolut Bezug zur Retro-Szene: früher gab es mit dem C64, kurzzeitig dem Atari ST und dann dem Commodore Amiga Heimcomputer, die eine hegemoniale Stellung im Spiele-Markt innehatten. Diese war zwar nicht freiwillig, sondern die Technik und der Markt ließen es nicht anders zu. Aber dennoch waren die Programmierer gezwungen, immer mehr aus den Maschinen rauszukitzeln.

Es gab nicht ständig neue Hardware, die zu mehr Leistung geführt hat – der Mensch, der Programmierer mußte seine Vernunft einsetzen, um mehr aus dem C64 rauszuholen, als eigentlich dringesteckt hat.

Das ist Quatsch. Der C64 war eine Maschine, und in der steckt nichts „Unsichtbares“ drin. Vielleicht hatten es Programmierer noch nicht entdeckt, aber da war es schon vorher.

„Da war es schon vorher“ – was heißt „da„? Sie gehen davon aus, daß das Potenzial eines Computers eine absolute Kategorie ist, eine bestimmte Menge, ein Wert; meßbar und somit endlich, weil eine endliche Menge Chips und Leitungen drin verbaut sind. Ich sehe das umgekehrt. „Da“ ist das, was im Kopf des Menschen ist, der vor dem Computer sitzt. Erst die Vorlage vom Programmierer und dann die Interpretation im Kopf des Users konstruieren zusammen die Welt, von der wir bei Computerspielen reden. Zählt man also diese beiden Köpfe zu dem Computer dazu, erkennt man die Unendlichkeit der Möglichkeiten. Spiele wie Paradroid oder Wizball sind neue Wege gegangen, haben den Spielern neuartige Verhaltensweisen abverlangt – wenn das gut gemacht ist, ist das äußerst anregend und unterhaltsam, ganz egal, wie die technische Seite ist. Es eröffnet neue Welten. Wenn man nun noch das soziale Element hinzufügt, potenziert sich dieser Effekt: Spiele, die man mit anderen am Computer spielen konnte, waren schon immer am spaßigsten, weil man hier im Besonderen neue Verhaltensstrategien entwickeln muß, immer wieder. Ich erinnere mich an Leaderboard. Meine Geschwister und ich probierten es Anfang der Ferien aus und im Nu war schon wieder Schule.

Na gut, aber wir reden doch nicht von der sozialen, sondern der technischen Seite von Computerspielen und die ist eben begrenzt.

Das ist nur zum Teil richtig. Noch 1987 wurde Nebulus auf dem C64 wegen des rotierenden Zylinders szeneweit diskutiert. Zu diesem Zeitpunkt war die 16-Bit-Ära bereits angebrochen und schon ein Jahr später hatten Amiga und ST die Marktführerschaft übernommen. Und dennoch sorgte ein technisches Gimmick wie jenes bei Nebulus für Furore, drängte sich in die Magazine zwischen Stereo-Sound und 4096 Farben eines Amiga.

Schön. Aber hat das, wie sie sagen, neue Welten eröffnet? Entstand ein neues Zylinder-Dreh-Genre?

Nein, das ist natürlich „nur“ ein Beispiel dafür, wie aus einem recht einfachen, aber beeindruckenden technischen Gimmick ein Spiel entstehen kann. Der Programmierer zeigte dem Produzenten dieses Gimmick, der es zwar beeindruckend fand, sich aber fragte, wie man so etwas hätte verkaufen sollen. Weil man im Kopf des Menschen aber einen Turm entstehen lassen kann, wenn man nur Sterne als Hintergrund und Treppen auf dem Zylinder einfügt, machte der drehende Zylinder auch einen Sinn und das wirkt motivierend, nicht die Technik allein. Der Spieler wird einen drehenden Zylinder vielleicht kurz bestaunen, aber ein Spiel mit diesem Effekt wird er starten.

Es gibt also keine absolute Kategorie: Technik ist nicht unwichtig (Nebulus), aber Technik allein macht noch lange keinen Hit. Das war in den 80ern so und heute ist es nicht anders.

Schön, deshalb gibt es bei den großen Softwareschmieden ja auch Kreativ-Abteilungen.

Das ist ein echtes Problem. Die sind oft nicht wirklich kreativ. 5 Kreative bedeuten nicht automatisch 5 mal mehr Kreativität, eher im Gegenteil. Mit solchen Teams macht man vielleicht Spiele, die eine lange Spielzeit und eine große Spielewelt haben, aber es ist ein Trugschluß. Beispiel Action-Rollenspiele: das ist immer das gleiche Prinzip, stundenlang: Aufgaben bekommen, scheitern, irgendwann meistern, hochleveln, schwerere Aufgabgen bekommen. Skyrim ist da nicht besser als Two Worlds.

Wie bitte? Two Worlds ist ein Action-Rollenspiel, Skyrim ist ein echtes Epos!

Vergessen Sie doch mal diese von der Industrie vorgesetzten Kategorien.

Nein, nein, vergessen Sie mal ihr Anti-Gerede gegen alles! Bei Two Worlds (das mir übrigens auch Spaß macht) tritt das von Ihnen beschriebene Prinzip im Großen und Ganzen unverblümt zutage. Bei Skyrim gibt es eine epische Story, die mit dem Rest des Elder-Scrolls-Reiches verwoben ist. Man kann Erze schürfen, eigene Waffen schmieden, sich unterschiedlichen Fraktionen anschließen, zum Dieb, Kämpfer oder zum Magier werden, man kann sogar verschiedenste Lebensmittel zu unterschiedlichen Gerichten kochen und noch vieles mehr. Das ist eben nicht so wie bei Two Worlds, das hat Tiefe, das macht Sinn.

(Feyd holt tief Luft und antwortet – morgen)

Ende Teil I.

Der Hobbit: Herr der Ringe Teil 0

Herr Braybrook, Sie haben sich den Film „Der Hobbit“ angeschaut. Wie fanden Sie ihn?

Es war ein durchwachsenes Erlebnis.

Erläutern Sie.

„Der Hobbit“ gilt zwar allgemeinhin als die Vorgeschichte zum „Herrn der Ringe“, war aber nie so konzipiert. Tolkien hatte längt beruflich als Professor für Sprachen in Oxford Karriere gemacht und sozusagen all das, was er bisher so an wunderlichen Geschichten erfunden hatte, in dieses Buch fließen lassen und natürlich angepasst. All diese Fragmente waren also noch nicht als zusammenhängendes Buch gedacht, und erst, nachdem „Der Hobbit“ ein Erfolg geworden war, hatte sich Tolkien entschlossen, etwas Größeres zu erschaffen. So schön „Der Hobbit“ als Buch auch ist, man merkt ihm das Collagenhafte an. Und das ist das Problem an diesem Film. Er springt von einer Begebenheit zur nächsten und das hat wenig Zusammenhang.

Das heißt aber auch, daß die Schuld nicht bei Peter Jackson, dem Regisseur zu suchen ist.

Ach so, ja klar: schuld ist das Buch…

Nein, aber Sie scheinen das typisch Episodenhafte von Fantasy nicht zu mögen und der Hobbit war nun mal eben ein Prototyp der Fantasyliteratur.

Nein und ja. Ich mag Fantasy durchaus, wenn sie schafft, was sie vorhat: mir glaubhaft eine andere Welt vorzugaukeln. Ob das dann in Episoden geschieht oder nicht, ist mir wurscht. Das hat der Hobbit als Buch ja auch geschafft, nur: Peter Jackson hat mit dem Film zweierlei versucht. Er wollte einerseits ein neues, großes Fantasy-Erlebnis schaffen und sich andererseits der Welt des J. R. R. Tolkien bedienen. Da ist der Hobbit eben das, was noch am nächsten am Herrn der Ringe dran ist, nur: es ist eben nicht der Herr der Ringe.

Der Hobbit gibt nun mal nicht mehr Ring-Mythos her als eben da ist. Es sei denn, Jackson erfindet es dazu. Das wiederum hätten die Tolkien-Fans ihm nicht verziehen, ganz so wie damals, als er Tom Bombadil aus dem Herrn der Ringe rausgelassen hat. Es gab ein riesiges Hallo allein deswegen, weil er etwas weggelassen hatte – wie wäre es erst geworden, wenn er etwas dazuerfunden hätte? Also hat er sich selbst eine Quasi-Legitimation erteilt, indem er frei Dinge aus dem Herr der Ringe in den Hobbit reingenommen hat, die zwar schon von Tolkien stammen, zum Zeitpunkt der Erscheinung des Hobbits aber eben nichts vorgesehen waren.

Ist doch gut: er verleiht der eher oberflächlichen Kost des Hobbit-Buches die Tiefe des Herrn der Ringe. Da kann es schon mal zu Ungereimtheiten kommen, aber das stört wahre Tolkien-Fans nicht, denn selbst Tolkien hat den Hobbit als Vorgeschichte zum Herrn der Ringe gesehen. Wie soll man auch sonst vorgehen, wenn man eine „Vorgeschichte“ verfilmt, die gar nicht als solche geplant war?

Es hat ihn ja niemand gezwungen, „den Hobbit“ zu verfilmen. „Der Herr der Ringe“ lebt ja besonders von seiner epischen Breite und der rote Faden mit dem Ring und seiner Verführungskraft hält das alles zusammen. Das kam in der beliebten Filmtrilogie natürlich auch rüber und man könnte sagen: das Buch war eine gute Steilvorlage.

Der Hobbit hingegen ist nicht auf einer Stufe mit dem Herrn der Ringe. Die guten Momente sind ja jene, in denen einem der große Zusammenhang mit dem Ring und seiner enormen Bedeutung für Mittelerde klar wird, aber diese Momente werden erst im Betrachter selbst konstruiert. Das Schlimme ist: man ist sich dessen bewußt, weil man beide Bücher und ihre Entstehungsgeschichte kennt. Und weil Jackson weiß, daß die Zuschauer das wissen, baut er die Epik nachträglich ein.

Ist es verboten, hier konstruktivistisch heranzugehen? Es funktioniert doch, ist doch egal, warum.

Das ist mein Problem mit dem Film: es funktioniert für mich nicht. Wenn ich ins Kino gehe – und glauben Sie mir, ich mag Fantasy! – dann muß der Film es schaffen, dieses „ist doch nur ein Film“ – Gefühl sozusagen wegzuzaubern. Ich hingegen habe gealterte Schauspieler gesehen, die aber eine Geschichte vor den Ereignissen der Trilogie darstellen. In dem Moment wird mir das ganze Konstrukt bewußt. Ich sehe nicht Elrond, der mit Galadriel, Saruman und Gandalf in Bruchtal redet, ich sehe Hugo Weaving mit massig übertünchten Falten, Cate Blanchett mit gealtertem Gesicht und Ian McKellen mit noch mehr Falten. Bei Christopher Lee hingegen haben sie die Haut per CGI ganz gut hingekriegt. Aber das rettet die Situation nicht, die sowieso nicht im Buch vorkommt.

Das Alter der Schauspieler ist nicht das wirkliche Problem. Es ist eine Art Mitleid, die man mit Peter Jackson empfindet. Der scheint da wirklich tief drin zu stecken in der Materie. So sehr nämlich, daß der kindliche Wunsch nach einem 4. Teil des Herrn der Ringe zu diesem Hobbit geführt hat. Da steckt so viel Wille darin, aber leider ist da nicht viel mehr als der Wille. Und der Versuch, das tiefer mit der Epik zu verweben, kann als gescheitert angesehen werden, schlimmer noch: ich behaupte, „Der Hobbit“ wäre besser geworden, wenn man das Ganze ohne die Einbettung in die Epik gemacht hätte.

Sie hatten also keinen Spaß?

Doch schon. Abgesehen von meinen Einwänden ist es ein gut gemachtes Fantasy-Szenario.

Sie verwirren mich. Das klingt ja so, als wüßten Sie eben doch nicht, ob ihnen der Film gefallen hat.

Ich fürchte, ich kann Ihnen da keine klare Antwort geben. Der Film ist OK und ich habe ihn gesehen, weil der Hype so groß war. Aber weil sich der Hype auch auf den Tolkien-Mythos begründet und dieser allgegenwärtig ist, kritisiere ich ihn in bezug darauf. Das will er ja auch. Peter Jackson hat genau gewußt, woran er sich wagt.

Jetzt tun sie mal nicht so, als wäre er dazu nicht in der Lage. Immerhin hat er den Herrn der Ringe verfilmt und das alles andere als schlecht.

Er scheitert an dem Denkmal, das er sich selbst gesetzt hat. Warum läßt er das nicht so, wie es war? Das erinnert mich irgendwie an diese ganzen Rockbands, die ihre größten Hits erneut im klassischen Gewand aufnehmen. Das verkommt zum furchtbarsten Kitsch, den man sich vorstellen kann. Ich kann mir schon vorstellen, daß Peter Jackson, überwältigt vom Erfolg der Filmtrilogie, im Nachhinein noch tausend Dinge anders machen wollte. Aber genau dieser Verführung darf man nicht erliegen.

Aber Peter Jackson hat doch nicht die Trilogie bearbeitet. „Der Hobbit“ ist ein völlig neuer Film.

Ich fürchte nicht. Der Hobbit an sich ist aus dem Wunsch entstanden, einen 4. Teil des Herrn der Ringe zu machen. Alle wollten das. Peter Jackson ebenso wie die Fans. Aber das muß man sich verkneifen. Es gibt keinen Herrn der Ringe Teil 4. Tolkien hat seine gute Idee mit dem Ring sowieso schon ausführlichst verwurstet, mehr war eben nicht. Man kann es natürlich versuchen, aber das Ergebnis trübt den Eindruck eher als dass es ihn bereichert.

Und trotzdem haben sie es gesehen?

Ich habe es streckenweise sogar genossen. Ich weiß, was ich ausblenden muß und ob dann noch genug übrigbleibt, um zu sagen: „hat sich gelohnt“.

Also hat es sich gelohnt, den Film zu sehen?

Teilweise.

Sie regen mich auf. Sie wollen doch allen nur den Film vermiesen!

Tut mir leid, wenn ich Sie aus ihrem Kindertraum erweckt habe, aber glauben Sie mir: es wird noch andere Fantasy-Kino-Erlebnisse in Ihrem Leben geben und dann wird „Der Hobbit“ vergessen sein.

Feyd zu Piraten, Anonymous, Content-Diebstahl

Herr Braybrook, Sie sind den Pavillonisten beigetreten, verlangen aber ein „Unfreiwilliger Pavillonist“-T-Shirt.

Damit bringe ich zum Ausdruck, daß ich viele Positionen kritisiere, nicht aber den Willen zur Veränderung.

Beispiel?

Die Idee der Vernetzung ist grundsätzlich gut. Sie steht für den Gedanken der Partizipation. Menschen sind in vielen Bereichen des Lebens gut in der Lage, sich selbst zu organisieren.

Was haben Sie dann gegen das „Schwarmprinzip“?

Sich selbst zu organisieren heißt nicht, daß man ab jetzt und für immer ohne Führung ist. Masse braucht Führung, sonst ist sie kopflos im Sinne von hirnlos. Individuen geben sich in der Masse auf, ganz automatisch. Ob sie dies in einer Graswurzelbewegung tun oder nicht, spielt keine Rolle, die Auswirkungen können fatal sein. Der Schwarm funktioniert nach anderen Prinzipien als dem hehren Ziel der Partizipation als demokratischem Element. Sehen Sie sich einen Heuschreckenschwarm an. Der frißt jegliche Vegetation leer, hinterläßt verwüstete Landstriche. Man könnte sagen, daß da ein partizipatorisches oder anarchistisches Element zu entdecken wäre, aber es ist eben nur ein Element. Da gibt es noch die Auswirkung: totale Verwüstung.

Die Natur gleicht das wieder aus.

Ja, die Natur kann auf das Leben eines Landstrichs verzichten. Sie hat Generationen lang Zeit, dies wieder auszugleichen. Sie hat unbegrenzten Raum – in der Logik der Natur steht die Wüste ja nicht für Zerstörung und Elend. Sie erfüllt in der Gesamtökologie einen wichtigen Zweck, ist für das Klima ausgleichend wichtig, bietet spezialisierten Lebensformen Platz.

Klingt doch gut: in der Natur gibt es kein Leid, alles wird ausgeglichen.
Übertragen Sie das mal auf die Wirtschaft: denken Sie an Unternehmen, die ihre schlechte Bilanz durch Entlassungen ausgleichen. Dadurch wird kurzfristig viel Geld gespart und unter Umständen erholt sich das Unternehmen nach einer Zeit.

Hart, aber was soll man sonst machen?

Ja, interessiert es Sie nicht, was mit den entlassenen Menschen geschieht, die vielleicht Familien haben und plötzlich ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können? Arbeitslosigkeit, Wohnungswechsel oder gar – losigkeit, Folgeprobleme wie prekäre familiale Lebenslagen? Haben Sie die Athmosphäre in einer Hartz IV-Familie schon mal erlebt? Wenn es ständig darum geht „wie war die Jobsuche?“, „wir haben eine Rechnung erhalten“ und „die Kinder fahren ins Schullandheim und brauchen Taschengeld“? Weiter ist es bekannt, daß sozial unterschichtete Kinder schlechtere Chancen im Bildungssystem haben. Zudem werden Menschen in prekären Verhältnissen öfter krank, leiden öfter unter Depressionen.

Die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf familiale Systeme sind mir bekannt.

Dann werden Sie mir zustimmen, daß es also mehr als naturwissenschaftlicher Prinzipien bedarf, um ein Unternehmen zu steuern.

Natürlich gibt es soziale Fragen, aber muß ein Unternehmen sozial sein?

Ja, wer denn sonst? Der Staat? Der ist damit überfordert, wenn er gleichzeitig freiheitlich handeln will. Der Spagat zwischen Freiheit für eine gesunde Wirtschaft und Lenkung der Wirtschaft zum Zwecke sozialer Gerechtigkeit ist zu groß für „den Staat“. Das sind diametral entgegengesetzte Kräfte, die ziehen und zerren und die müssen auf Protagonisten verteilt werden – Arbeitgeber und Gewerkschaften zum Beispiel.

Unternehmen stehen vor der Aufgabe, soziale Elemente in ihre Vision zu integrieren und selbst da wird es schwierig. Aber es ist eine Chance, denn die Menschen, aus denen Unternehmen bestehen, verbringen einen Großteil ihres Lebens in Arbeitsverhältnissen. Das prägt deren Denke, Werte, Deutungen, Überzeugungen, ihr Handeln. Wenn das Unternehmen nur Platz läßt für Profit und Rationalisierung, geschieht zweierlei: erstens zerstört das die Unternehmenskultur – d.h. Arbeitnehmer, die in dieses Schema nicht reinpassen, verabschieden sich mit der Zeit oder scheitern und zweitens bildet sich eine informelle Unternehmenskultur, damit der Laden überhaupt läuft.

Klingt doch nicht schlecht: wenn das Unternehmen versagt, sorgen die Mitarbeiter für Kompensation. Das Prinzip der Selbstorganisation funktioniert doch.

Das ist keine Selbstorganisation, sondern Zerfall. Langfristig zerstört die Entfernung der Chefetage von den Mitarbeitern das Unternehmen. Natürlich kann man, wenn man diesen Vorgang mit der Natur vergleicht, sagen: das ist natürliche Auslese, da hats zwischen Chefetage und Mitarbeiterebene nicht geklappt und wenn damit ein ungesundes Unternehmen zugrunde geht, macht es Platz für den nächsten Versuch der natürlichen Wirtschaftslandschaft, einem gesunden Unternehmen die Chance zu geben. Aber was ist mit den Arbeitnehmern – können die sagen: „hat nicht geklappt mit dem Unternehmen, in dem ich gearbeitet habe. Also jetzt erst mal ein paar Monate arbeitslos und dann schauen, wie es weitergeht.“?

Es ist ein Unterschied, ob ich als Chef Raum gebe für Diskussionen und diese auch wertschätze oder ob ich Diskussionen unterdrücke und die Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand lästern. Das sind zweierlei äußerst unterschiedliche Arten von Kommunikation. Ich fürchte, bei der letzteren wird das Unternehmen darunter leiden.

Die Pavillonisten sind aber eher in der Politik denn in der Wirtschaft beheimatet.

Das ist noch schlimmer. Politik ohne Gesamtverantwortung hat noch weitreichendere Folgen als Unternehmensführung ohne Verantwortung. Es sind mehr Menschen betroffen. Um genau zu sein: alle Menschen des Landes.

Die einzelnen Zellen der Pavillonisten können doch auch soziale Interessen verfolgen.

Und sie können es auch lassen. Das Partizipationsprinzip allein gewährleistet nicht soziale Gerechtigkeit. Es ist lediglich ein Weg der Teilhabe an politischen Entscheidungen, nicht derer Inhalte. Eine Gesellschaft kann sich dafür entscheiden, Menschen von gesellschaftlichen Gütern auszuschließen und sie kann dabei das Partizipationsprinzip völlig einhalten.

Glauben Sie, die Mensche seien so blöd?

Das hat nichts mit Blödheit zu tun. Wenn Ressourcen knapp sind, beginnt das große Ziehen und Zerren. Das ist nur menschlich, hat aber unmenschliche Folgen für Einzelne, meistens die Schwachen. Genau deshalb hat man sich immer schon mit der Frage beschäftigt, wie auch jene ihr Stück vom Kuchen abbekommen können, die des Ziehens und Zerrens nicht mächtig sind. So etwas kann man nicht dem Willen der Mehrheit überlassen, weil die Mehrheit nur ihre Interessen verfolgt – vor allem, wenn die Güter knapp sind. Haben sie schon mal eine Panik erlebt? Da geht’s drunter und drüber. Aber es muß noch nicht einmal die Panik als Beispiel herhalten. Da reicht schon der Sommerschlußverkauf oder die Eröffnung des Buffets. Die Leute sind blind, sie sind berauscht vom Konstrukt der Partizipation als Allheilmittel.

Sie spielen auf die Erfolge der Piratenpartei an.

Ja, die halten sich für eine Bewegung aus dem Volk heraus und das Internet mit seinen sozialen Netzwerken ist für sie DER Garant für eine Demokratisierung.

Ich nehme an, Sie sagen mir gleich, warum das nicht der Fall sein soll.

Zunächst einmal hat nicht jeder Zugang zu den Gütern, die einen Piraten ausmachen.

Nicht jeder hat einen Internetzugang, aber das wird sich ändern und die Piraten wollen dies sogar beschleunigen.

Der Internetzugang allein bewirkt noch kein politisches Engagement. Die 20 – 30 € für eine Internet-/Telefonie-Flat kriegen bis auf wenige sehr arme Menschen die meisten noch zusammen. Es ist wie mit dem Fernsehen: da steht vielleicht dasselbe Gerät in zwei Haushalten, aber es laufen unterschiedliche Programme. Die Möglichkeit allein bedeutet noch nicht, daß sie auch genutzt wird. Die Piraten schließen zu sehr von sich auf andere. Die Vernetzung, die die wahrnehmen und deren Teil sie sind, betrifft viele Volksgruppen nicht. Und damit meine ich noch nicht einmal marginalisierte Bevölkerungsgruppen in prekären Lebenslagen, sondern auch technikfremde Volksgruppen. Also Leute, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Berufstätigkeit keinen oder einen eingeschränkten Zugang zum Internet haben. Oder solche, die ihn gar nicht haben wollen.

Die Welt da draußen ist anders als jene, die die Piraten durch ihren Bildschirm sehen. Vernetzung bringt denen etwas, weil die eine gewisse Homogenität haben. Ist dies nicht gegeben, kommt es zu widersprüchlichen Interessen und dann wird nicht vernetzt, dann werden Machtkämpfe geführt.

Beispiel?

Beispiel: Filesharing. Sie tun es, weil sie es können. Was meinen Sie, warum die Volksmusik-Industrie einen vergleichsweise geringen Einbruch zu verzeichnen hat? Deren Konsumenten sind fürs Filesharing einfach nicht technikaffin genug.

Anders bei den Piraten: viele haben schon beruflich im Internet zu tun. Da rattern die Feeds und ständig wird gebloggt, gemailt, getwittert. Dementsprechend wissen die schon lange, wie man Daten austauscht und Filesharing-Plattformen sind da, weil die es so gebraucht haben. Vernetzung ist da völlig normal.

Und das Schlimme ist nun, daß die daraus ihre Werte ableiten. Die wollen Filesharing betreiben, also muß man das auch dürfen. D.h. erst wird gehandelt, dann wird das Handeln im Nachhinein legitimiert. Da frage ich mich, wozu man Gesetze überhaupt braucht.

Deshalb sind naturwissenschaftliche Prinzipien auch so wichtig für diese Bewegung: der Schwarm hat recht, was immer er tut, wo immer er sich auch hinbewegt. Die Piraten sagen das ganz offen: die Entwicklung im Internet ist nicht mehr umkehrbar, und weil das so ist, muss das Urheberrecht abgeschafft werden. Es sei nicht mehr zeitgemäß, gehöre abgeschafft, weil sich so gut wie keiner mehr daran hält.

Als Feindbild muß dann die „Musikindustrie“ herhalten. Das ist natürlich schön bequem – „die Musikindustrie“ – wer ist das? Sind das die großen Plattenfirmen wie Sony, BMG und EMI? Also Konzerne? Das ist deshalb bequem, weil man keinen Schuldigen direkt benennen muß. Feind ist ein Konzern und wenn man die Musik nicht bezahlt, die der auf CD oder per Download verkauft, hat man ja keinen Menschen geschädigt, sondern einen bösen Konzern. Das erinnert mich an japanische B-Movies aus den 70ern oder an Resident Evil, an Fantasy oder Starship Troopers: Gewalt ist eigentlich schlecht, aber da ausnahmesweise vollkommen OK, weil das ja Maschinen oder Zombies, Orks oder Bugs sind, die vernichtet werden.

Im Übrigen trifft es noch nicht einmal „die Konzerne“ oder jene, die dort arbeiten und selbst keine Musik herstellen. Es trifft also nicht diejenigen, die Musik vermarkten. Die werden am ehesten noch den Transfer zu neuen Wegen der Vermarktung hinbekommen. Es trifft die Autoren und Musiker.

Ein Autor lebt nun einmal davon, daß die Musik, die er komponiert, gehört wird. Das so hinzubekommen, daß viele Menschen immer wieder hinhören, ist eine Kunst und die muß man sich oft erarbeiten. Gleiches gilt für Musiker: die liefern eine Dienstleistung ab und je mehr CDs bezahlt werden, desto mehr Geld verdienen die daran.

Der Kampf gegen Konstrukte ist in seinem Wesen höchst faschistischer Natur und wenn man sich die Videos von Anonymous ansieht, fühlt man sich doch unweigerlich an faschistische Propagandavideos erinnert. Der Inhalt ist ebenso bedenklich. Die demonstrieren gegen das Bankenwesen. Wieder so ein Konstrukt. Das kennen wir von dem angeblichen „Weltjudentum“ – man konstruiert einen ungreifbaren Feind, schreibt ihm die Schuld an einem Mißstand zu und das wird dann als Legitimation dafür genommen, greifbare Personen anzugreifen. Die Nazis haben sich darin ihre Legitimation für ihre Verbrechen an den Juden zurechtgelegt.

Das alles paßt den Piraten ins Bild. Sie negieren die Existenz geistigen Eigentums, damit sie Content stehlen und weiterverbreiten dürfen. Sie stellen die Freiheit auf die Stufe der Werte, dabei ist die Freiheit ein Mittel für das Gute wie das Schlechte – eine Antwort auf dringende soziale Fragen habe ich in deren Programm nicht gefunden. Sie bewegen sich im Umfeld von Anonymous – einer Organisation, die gegen „die Banken“ vorgehen will. Da haben wir es wieder: ein Mißstand wird einem Konstrukt, als „den Banken“ zugeschrieben. Das wiederum mündet in Cyber-Angriffen auf die Internetpräsenzen der Banken, was wiederum reale Personen schädigt, siehe „Operation Payback“ oder die „Operation Sony“. Bei der Gema ist es ebenso: wenn die Seite der Gema lahmgelegt wird, laufen Dienstleistungen wie die Musikrecherche nicht mehr. Rechnen Sie sich mal aus, was das bei 65000 Mitgliedern für einen Schaden anrichtet. Das ist also nicht eine ominöse „Industrie“, das sind reale Personen, Autoren, deren Werke online nicht mehr gefunden werden können, weil die Site lahmgelegt ist.

Wir können nicht einerseits behaupten, gegen Korruption zu sein (was ja das Fehlverhalten von Individuen ist) und andererseits keine Namen nennen. Wenn wir sagen: die Banken sind schuld – dann halte ich das für ein Konstrukt und zwar für ein gefährliches. Gefährlich nicht nur deshalb, weil wir damit eine Legitimation schaffen, Menschen zu verurteilen (und wie Anonymous zu bestrafen) allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe. Gefährlich auch deshalb, weil wir uns selbst dadurch zu Unmenschen machen.

Wie definieren sie „Unmensch“? Ist das nicht ein Widerspruch zu der Menschenwürde, die sie genannt haben?

Überhaupt nicht. Denn nach wie vor glaube ich, daß jeder Mensch eine unveräußerliche Menschenwürde hat. Das heißt aber nicht, daß er gefeit davor ist, Fehlverhalten an den Tag zu legen. Andere zu verurteilen oder zu schädigen, nur weil sie einer Gruppe von Menschen angehören, ohne Sicht auf den Menschen selbst, das halte ich für unmenschlich. Deshalb spreche ich diesen Leuten nicht die Menschenwürde ab. Die haben sie nach wie vor. Und gleichzeitig handeln sie anderen gegenüber menschenunwürdig, kriminell, unmoralisch.

Halten sie Anonymous für eine kriminelle Organisation?

Ich halte den Cyber-Angriff auf Websites wie jene der Gema für kriminell und jeder, der sich daran beteiligt hat, hat kriminell gehandelt.

Anonymous sagt das Gleiche über die Gema.

Mit dieser Argumentation legitimieren auch Terroristen ihr Tun. Für sie haben die knapp 3000 Toten der Anschläge vom 11. September im besten Fall den Status eines Kollateralschadens. Dasselbe ist ja das Argument der Piraten: im besten Fall zeigen diese noch eine gewisse Art von Verständnis für Autoren, aber ihrer Meinung nach sind sie durch ihre Mitgliedschaft bei der Gema eben im falschen Boot und dürfen entrechtet werden. Und deshalb ist für die Piraten das Urheberrecht ebenfalls Unrecht. D.h. die demontieren Stück für Stück alles, was ihrem Vorteil – dem Datenklau – im Weg steht. Die zimmern sich ihr Weltbild zurecht.

Teilweise lese ich auch so völlig abstruse Erklärungsversuche für das Filesharing wie: „ich unterstütze Autoren, bin aber gegen die Industrie“ – Filesharing also aus reiner Menschenliebe womöglich… das muß man sich mal vostellen: da kopiert sich einer die Musik eines Künstlers, zahlt keinen Cent dafür und bildet sich womöglich noch ein, den Autor zu unterstützen. Weil die Industrie ihn ja ausnimmt. Was er ja nicht tut, wenn er Musik kopiert.

Aber selbst, wenn das Filesharing moralisch verwerflich ist, ist doch der Kampf dagegen dennoch zumindest aus funktionaler Sicht verloren. Die Strafen, so drakonisch sie auch sind, scheinen offensichtlich kaum jemanden abzuschrecken. Welche bessere Strategie fällt Ihnen denn ein?
Warum sollen wir nicht wieder darüber reden, daß der Mensch mehr ist als tumbe Materie? Wenn man so etwas Immaterielles wie persönliche Daten für schützenswert erklärt – wo ja besonders die Piraten hochsensibel sind – muß man doch auch anerkennen, daß Musik etwas Immaterielles, aber Seiendes ist. Es ist nicht nur eine beliebige Anordnung von Tönen oder Artikulation. Es steht für eine Person, die es ausgesandt hat, um andere Personen zu erreichen. Es steht für die Arbeit, den künstlerischen Werdegang, die Auseinandersetzung mit sich selbst als Person und der Umwelt. Wie kann jemand auf die Idee kommen, die Persönlichkeit eines Menschen würde verletzt, wenn man dessen Daten weiterverbreite, aber gleichzeitig sei es keine Verletzung seiner Persönlichkeit, wenn man seine ureigene Musik verbreite, ohne ihn dafür zu entlohnen?

Ganz abgesehen davon ist es mir vollkommen egal, ob der Kampf gegen den Contentdiebstahl verloren ist oder nicht. Damit würde ich mich ja auf dieselbe positivistische Stufe stellen wie die Heuschrecken, die alles leerfressen.

Sind sie der Bauer, der in sein von Heuschreckenschwärmen zerstört werdendes Feld rennt und die Heuschrecken aufscheucht?

Nein, ich sitze daneben und gieße mein Pflänzchen. Das haben die noch nicht entdeckt und solange lassen die mich auch in Ruhe. Ich sitze da, beträufle das zarte Ding und denke über all die Arschlöcher nach, die den Acker leerfressen. Sie sind sich keiner Schuld bewußt, denn jede frißt ja „nur“ sich satt. Sie ignorieren den Anblick, der sich ihnen böte, wenn sie nur mal ein paar Meter nach oben fliegen würden: die vollständige Zerstörung einer Lebensgrundlage. Sie ignorieren es, weil sie selbst damit beschäftigt sind, zu fressen. Aber das Schlimmste ist: das sind keine Heuschrecken. Das sind Menschen, die sich selbst zu Heuschrecken degradieren. Sie sprechen der Kunst das Individuelle ab, weil ihrer Meinung nach alles von Künstlern Geschaffene auf bereits Bestehendes zurückgreift und es nur neu zusammensetzt. Wie kann man vor einem Bild von van Gogh stehen und sagen: „das ist im Prinzip dasselbe, was da Vinci gemacht hat – es ist Ölfarbe, es ist Leinwand, da ist ein Mensch und eine Landschaft abgebildet.“

Soviel zur Sinnhaftigkeit naturwissenschaftlicher Ansätze der Erklärung unserer Wirklichkeit.

Soviel zum Schwarmprinzip. Was ist nun mit den Pavillonisten?

Ich mag sie,solange sie an genau dieser Diskussion interessiert sind. Meine Frage nach dem „-ismus“ als Form der Uniformierung hat doch einige aufgeschreckt. Keiner will einem Ismus angehören. Solange die Frage danach, inwiefern Vernetzung ein Teil, oder besser: „nur“ ein Teil von Demokratie sein kann, erlaubt ist und wohlwollend behandelt wird, bleibe ich dabei.

D.h. Sie sind Pavillonist?

Ich bin für mehr Partizipation, aber sie darf nicht als Allheilmittel gelten. Es gibt keine mechanistische Verbesserung unserer Lage und ich fürchte, wir werden das schon zu einem Teil noch selbst in die Hand nehmen müssen.

occupy yourself

Herr Braybrook, morgen ist occupy:World-Tag. Ihnen als Linkem müßte doch das Herz aufgehen.

Mir als Linkem, soso… seltsam. Ich wußte nicht, daß ich ein Linker bin.

Sie bezeichnen den Rechtspopulismus dieser Tage als Nationalismus, der System hat. Sie verurteilen die Verschmelzung von Wirtschaft und Politik. Sie fordern mehr Geld für soziale Belange ein. Sind das keine linken Positionen?

Gegen Nazis zu sein, hat was mit Menschlichkeit und gesundem Menschenverstand zu tun. Dazu muß man kein Linker sein. Die anderen Probleme und offenen Fragen, die sie genannt haben, geben aus traditionell linker Position Antworten, die ich so nicht teile.

Beispiel?

Ich befürworte grundsätzlich einen freien Markt. Traditionell linke Positionen dazu gehen von planwirtschaftlicher Steuerung aus. Davon halte ich nichts. Das macht den Markt kaputt.

Sie sind gegen die Ausuferungen des Marktes, halten aber nichts davon, ihn zu steuern. Welches Konzept legen Sie vor?

Gar keines. Die Möglichkeiten, die wir bisher haben, reichen aus, der Politik einen gehörigen Denkzettel zu verpassen.

Das erinnert stark an die occupy-Bewegung. Denen wirft man auch vor, gegen alles zu sein, selbst aber keine Konzepte vorzulegen.

Konzepte vorzulegen, ist nicht Aufgabe der Bürger. Sie dürfen sich darauf beschränken, Mißstände anzuzeigen. Darauf muß die Politik dann reagieren.

Werden Sie morgen Mißstände aufzeigen gehen?

Nein.

Warum nicht?

Mir ist das alles zu schwammig.

Haben Sie nicht gerade eben gesagt, daß Protest auch ohne vorliegendes Verbesserungskonzept geübt werden darf?

Ja, aber meine Unzufriedenheit verpflichtet mich nicht, jedem Aufruf hinterherzurennen. Die occupy-Bewegung liefert schwammige Analysen, schwammige Schlüsse und dazu eben auch keine Konzepte. Das ist insgesamt zu wenig.

Erläutern Sie: welche schwammigen Analysen sind gemeint?

Es heißt, die Banken, die Börse wäre schuld an unserer Misere. Natürlich war all die Spekuliererei hautpverantwortlich dafür, daß der globale Finanzmarkt eine riesige Seifenblase geworden ist, mit Bürgschaften, Verbindlichkeiten und Geld, das gar nicht da ist. Dennoch wurde mit diesem nicht vorhandenen Geld spekuliert und weiterspekuliert, bis die Seifenblase geplatzt ist. Und nun springen Politiker ein und retten die Banken und das heißt im Klartext: der Bürger springt mit seinen Steuern ein. Das weckt natürlich Wut in uns. Aber wohin mit der Wut? Wen wollen wir treffen? Welches Verhalten wollen wir in Zukunft verhindern? Und vor allem: welche politischen Mittel gibt es, ausufernde Spekulationen zukünftig zu vermeiden?

Na, Sie haben es doch gerade eben gesagt: Banker und Spekulanten sind schuld. Sie sollen genauer kontrolliert und zukünftig verantwortlich für ihr Tun gemacht werden können.

„Banker“, „Spekulanten“ – das sind Konstrukte. Es gibt nicht die Banker oder die Spekulanten. Damit wirft man alle in einen Topf und wird keinem gerecht. Wir brauchen Banken, wir brauchen Marktwirtschaft und in einem überschaubaren Rahmen brauchen wir auch Spekulation.

Aber Sie selbst sagen doch, daß dem Markt das Regulativ fehlt.

Ja und nein. Ja, denn der Markt folgt fast schon naturwissenschaftlichen Gesetzen, aus denen man aber keinerlei Prognosen ableiten kann. Es ist wie der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, der irgendwo auf der Welt einen Orkan auslösen kann: also pure Chaostheorie. Der Markt wird aber immer noch von Menschen bevölkert und auf die kommt es an. Wenn wir Menschen jegliche Verantwortung von uns weisen, degradieren wir uns zu Maschinen und machen uns letztendlich selbst abhängig von den Gesetzen des Marktes.
Wir brauchen aber die Souveränität, als Menschen im Markt agieren zu können. Es wirkt geradezu lächerlich, daß dies angeblich nicht möglich sein soll. Banker müssen menschlich agieren dürfen. Die öffentliche Ächtung der Menschlichkeit muß ein Ende haben.

Was meinen Sie damit?

Ein Manager bekommt Geld dafür, den Gewinn zu optimieren. Alles andere ist egal. So hat man lange gedacht und Unternehmen geführt.

Das war ja auch erfolgreich.

Irrtum. Viele Unternehmen hatten lange Zeit eine gesunde Bilanz, aber eine kranke Unternehmenskultur. Irgendwann sind sie zusammengebrochen – meistens dann, wenn die autoritäre Integrationsfigur, der Patriarch gestorben ist. Dieser Teil der Unternehmensgeschichte interessiert die wenigsten. Das ist ganz ähnlich wie mit Ex-Jugoslawien. Als es Anfang der 90er zusammengebrochen ist, war das die logische Konsequenz einer Entwicklung, die mit Titos Tod undwillkürlich begonnen hatte. Er hatte das Land mit eisernern Hand über jegliche Freiheitsbestrebungen hinweg geführt und als er starb, konnte und wollte keiner diese Funktion ersetzen.
Wir brauchen Menschlichkeit als Selbstverständlichkeit im Management, sonst wird der Markt immer weiter wuchern, bis nichts mehr zum Wuchern da ist.

Das klingt irrational: Menschlichkeit im Markt.

Ist es nicht umgekehrt? Alle befassen sich mit Ganzheitlichkeit, überall wird davon geredet, daß Systeme in allen Aspekten analysiert werden müssen, weil sie sonst unvollständig und somit fehlerhaft dargestellt werden. Nur für den Markt soll das bitteschön nicht gelten. Hier soll die Beschränkung auf Zahlen und Wachstum ausreichend für den Erfolg sein.

Warum nicht?

Weil der Markt letztendlich aus Menschen besteht. Mir erscheint es irrational, Aspekte der Humanität außer Acht zu lassen, nur weil Geld keine Seele besitzt. Wir, die wir das Geld in der Hand halten, haben eine Seele und die läßt sich nicht ausblenden.

Meinen Sie nicht, eine humane Ökonomie könnte kränkeln?

Im Gegenteil. „burn-out“ ist in aller Munde und stellt eine typische Krankheit dar, die durch Ausblenden menschlicher Aspekte beim Job entsteht. Der Mensch soll nicht nur alle Anforderungen bewältigen, er soll sie auch noch besser als die Konkurrenten bewältigen. Befindlichkeiten oder gar Krankheiten werden unterdrückt und das macht dann erst recht krank – bis zum burn-out.
Gegen das, was die Chinesen momentan tun, haben wir keine Chance, da können wir nur hinterherhecheln. Das ist nicht die Chance, nicht der Weg. Wir sparen immer mehr, bemühen uns immer mehr, werden immer nur noch unmenschlicher in der Arbeitswelt und am Ende reichen all diese Bemühungen doch nicht aus – die Chinesen arbeiten eben immer noch für nen Apfel und ein Ei. Selbst, wenn wir unsere Löhne auf deren Niveau runterschrauben würden, hätten uns die Chinesen den Hunger voraus: ein Apfel und ein Ei ist das Paradies für die, die hatten gestern weniger. Wir müssen versuchen, neue Wege zu gehen – so wie es auf technischer Ebene die grünen Energien waren, müssen wir einen neuen Weg in der Ökonomie einschlagen.

Wie soll ein Manager einen Haufen selbstmitleidiger Mitarbeiter zu Höchstleistungen anspornen?

Dieser Satz strotzt nur so vor negativen Konstrukten. Warum sollen Menschen zu Leistung agespornt werden? Wie wäre es mit Motivation? Und: muß die von außen kommen? Welche Rolle sollte ein Manager dabei haben? Was meinen Sie mit selbstmitleidig?
Das sind alles die Fehler der Vergangenheit. Schauen Sie sich Google an, da bekommen die Kreativen einen ganzen Tag pro Woche für ihre Kreativität. Sie müssen niemandem irgendetwas nachweisen und sind vielleicht gerade deshalb erfolgreich. Das Zauberwort hier ist „Vertrauen“.

Vertrauen kann man mißbrauchen.

Wegen der 5 – 10 %, die das Vertrauen eines Unternehmens mißbrauchen, lohnt sich das Prinzip des Vertrauens in Unternehmen trotzdem.

Was möchten Sie also der occupy-Bewegung sagen?

Mir fehlt der Selbstbezug. Das Problem, der Turbo-Kapitalismus ist das Ergebnis völliger Freiheit. Wir haben dem Markt völlige Freiheit gelassen, wir haben ihn auf den Sockel gehoben. Nun müssen wir uns aber eingestehen, daß wir auf den Markt nicht verzichten wollen, denn das würde heißen, auf die Annehmlichkeiten des Marktes verzichten zu wollen. Allerdings müssen wir ihn von seinem Sockel holen. Da gilt es, Heldenhaftigkeits-Vorstellungen zu demontieren. Der schnittige, sportliche, erfolgreiche Typ – das impliziert immer auch den inhumenen Typ. „Geiz ist geil“ – solche Sprüche hätten uns aufschreien lassen müssen, stettdessen haben wir alle mitgemacht. Weil wir immer mehr immer billiger wollten. Damit muß Schluß sein. Auch als Verbraucher haben wir einen Anteil an der Misere. Wir müssen den Konsum in Frage stellen. Er ist der Motor einer Wirtschaft, die nur bestehen kann, solange wir in regelmäßigen Abständen neue Waren kaufen, selbst, wenn wir sie nicht brauchen. Wer braucht einen 3D-Fernseher? Muß das sein? Im vergangenen Jahrzehnt sind wir von der Röhre über den LCD-Bildschirm, dann zum HD-Fernseher gekommen. Muß das sein? Ende der 90er hatte die CD die Vinyl-Platte bzw. Diskette als Datenträger abgelöst. Dann kam die DVD, die inzwischen von der Blu-Ray abgelöst wird. Muß das sein? Festplatten werden immer größer, weil die Daten, die wir darauf speichern, immer umfangreicher werden. Ein Bekannter hatte sich Mitte der 00er-Jahre damit gebrüstet, über 2500 Stunden Musik auf dem Rechner zu haben, von denen er vielleicht ein Zehntel überhaupt gekannt hat. Muß das sein? Brauchen wir das?
Ich wünsche mir, daß wir uns alle als ein gesamtes System begreifen. Die Banker, wie es sie gibt, haben wir uns gebacken. Der Media-Markt, über den ich lästere, in diesem Media-Markt habe ich auch schon eingekauft.

Sollen wir also kollektiv die Schnauze halten?

Nein. Wir sollen protestieren, aber wir dürfen uns von der Kritik nicht ausnehmen. Allein schon deshalb, weil ich es höchst zweifelhaft finde, Menschen aufgrund ihres Berufes auszugrenzen. Wenn die occupy-Bewegung absolut kongruent wäre, würden ihre Mitglieder ihre Bankkonten schließen. Tun sie das?

Müssen sie das, um glaubwürdig zu bleiben?

Nein, aber sie sollen nicht so tun, als seien sie unschuldig. Und sie sollen keine einseitigen Schuldzuweisungen gegenüber Bankern formulieren. Das sind Menschen wie du und ich, die mit der Zeit so inhuman werden wie das System, in dem sie arbeiten. Die Frage ist: welchen Teil tragen wir dazu bei, daß dieses System besteht?
Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen der Neuzeit. Im Moment fällt mir nämlich kein besseres Heilmittel als die gute alte persönliche Haltung ein. Kompliziert zu definierende Werte wie „Maß halten“ – so etwas kann man schwer naturwissenschaftlich nachprüfbar festlegen. Das muß dem Menschen überlassen sein

Ist das nicht das Problem? Ist es nicht so, daß genau dadurch, daß man den falschen Leuten die Entscheidung über gutes und schlechtes Handeln überlassen hat, diese sich eben für schlechtes Handeln entschieden haben?

Doch schon. Dann müssen eben andere Leute her. Wir brauchen endlich ein gesellschaftliches Paradigma: jeder Mensch muß in jeder Position der Gesellschaft auch „gut“ handeln. Das haben wir zu lange außen vor gelassen. Weil uns die Freiheit wichtiger war als das Streben nach dem Guten, bis wir gemerkt haben: wenn man uneingeschränkt Freiheit hat, dann gibt es Leute, die sich die Freiheit nehmen, völlig egoistisch zu denken und zu handeln. Dabei müssen sich Freiheit und Gutes nicht widersprechen.
Also: okkupiert, aber polarisiert nicht.

Lady Gaga, Michael Jackson und die Beatles bei McDonalds

Guten Tag Herr B.

Guten Tag.

Es heißt, Sie lehnten Casting-Shows ab.

Richtig oder genauer: ich nehme sie nicht ernst.

Warum?

Weil eine Casting Show nicht geeignet ist, Künstler zu entdecken.

Die Shows werden von Millionen verfolgt, die Finals sind regelmäßige Highlights im Fernsehen. Die Gewinner, ja sogar die ausgeschiedenen Finalisten werden zu Stars, die Juroren sind allgemein anerkannt. Dennoch halten Sie die Beteiligten nicht für Künstler. Erläutern Sie.

Nichts von alledem, was Sie sagen, ist ein Argument dafür, daß es sich hierbei um Kunst handelt. Sie reden von einem Markt – das ist was anderes.

Wo ist der Unterschied?

Ein Markt ist steuerbar. Gute Kunst lebt von der Überraschung.

Oha. Und das von Ihnen, der Sie sagen, Märkte hätten die Eigenschaft, sich zu verselbständigen.

Das tun sie auch, was die Verantwortung für die Gesellschaft angeht. Porsche, Daimler, Bosch, Microsoft – die interessieren sich nicht dafür, welchen Platz sie in der Gesellschaft einnehmen und was für soziale Impulse sie auf die Gesellschaft ausüben. Sie interessieren sich nur für ihre Position im Markt aus Sicht des Marktes. Und da sind sie in hohem Maße in der Lage, den Markt zu steuern. Werbung spielt eine enorme Rolle dabei. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, seine Monopolstellung zu sichern bzw. auszubauen.

Ist dies bei der Musik überhaupt möglich?

Die Musik ist dafür sogar prädestiniert. Weil sie aus genügend Idealisten besteht, beiderseits des Musikmarktes. D.h.: Sowohl Musikschaffende als auch Konsumenten sind auf der Suche nach dem idealen Lied. Das kann blind machen.

Wie meinen Sie das?

Man stellt sich vor einen Haufen Leute und singt ihnen ein Liebeslied. Nicht alle, aber viele werden nach einer Weile verträumt dastehen und die Paare werden Händchen halten und sich küssen.

Was ist schlimm daran?

Nichts. Allerdings ist es möglich, daß das Lied nicht ernstgemeint ist. Daß es aus einer Aneinanderreihung aus archetypischen Textbausteinen besteht. „ewiglich – lieb´ ich Dich“ usw.

Und selbst, wenn: was ist so schlimm daran, in Klischees zu versinken?

Nichts. Es ist nur schade, daß diese Aneinanderreihung von Klischees zum Nonplusultra gemacht wird. Leuten wie Dieter Bohlen, die seit Jahrzenten nur seichte Diskomucke produzieren, wird ein Expertenstatus zuerkannt, weil sie sich so benehmen, als wären sie der Dorfschulmeister. Man muß sich das mal vorstellen: da genießt es ein Mittvierziger, Jugendliche vor der ganzen Nation mit mehr oder minder prolligen Kneipensprüchen niederzumachen. Und keiner spricht darüber, was er macht, im Gegenteil: man lacht diese armen Kinder aus und schiebt ihnen selbst die Schuld in die Schuhe. Sie hätten ja zuhause bleiben können.

Hätten sie doch auch. Wer hat sie gezwungen, sich bei Bohlen zu bewerben?

Mit der Waffe niemand. Aber wollen Sie den Druck, den Medien auf Jugendliche aufbauen, leugnen?

Nein, aber wie ließe sich das staatlich regeln?

Gar nicht und es ist auch nicht die Aufgabe des Staates. Es ist auch nicht „die“ Aufgabe eines anderen Teiles der Gesellschaft. Mich wundert lediglich die völlige Kritiklosigkeit, mit der Bohlens Eskapaden in den Adelsstand gehoben werden. Bohlen kann halt geschickt Platten verkaufen, das ist aber auch alles. Er ist sich auf der anderen Seite aber auch für nichts zu schade. Das kann durchaus mal nach hinten losgehen und dann hat er sichs übel verscherzt.

Da widersprechen Sie sich aber. Einerseits sagen Sie, Bohlen habe die Macht, die Menschen und den Markt zu manipulieren, andererseits sei er von ihnen derart abhängig, daß er völlig im Abseits landen könnte.

Das ist kein Widerspruch. Die Macht, mit der er hantiert, ist letztlich unkontrollierbar. Wenn er gewisse Strömungen im Musik-Konsum-Markt im Moment nutzt, ist das vielleicht vorteilhaft für ihn, aber er zahlt auch einen hohen Preis. Er baut das Image eines Alleinherrschers auf. Das funktioniert nur solange, wie er König ist. Aber Könige werden gestürzt, und je grausamer sie geherrscht haben, desto grausamer ist die Rache des Volkes.

Herr Braybrook, Sie übertreiben. Zwischen Ludwig dem XIV. und Dieter Bohlen besteht ja wohl noch ein Unterschied.

Im Prinzip nicht, nein. Ich spreche ja auch nur im übertragenden Sinne von Bohlen als einem König. Aber wenn Sie diesen Vergleich für übertrieben halten, dann nehmen sie doch Michael Jackson zum Vergleich. Er wurde (zurecht) in den Himmel gehoben, ist dann Mitte der Neunziger tief gefallen und hat sich Zeit seines Lebens nie davon erholt. Als er dann plötzlich gestorben ist, wurde er gottgleich verehrt.

Da bin ich jetzt aber mal gespannt, was davon Sie für gerechtfertig halten.

Nichts von alledem. Jackson war zurecht als Sänger und Tänzer gefeiert, aber er wurde auch immens gehyped. Seine Songs hat er auch nicht geschrieben. So viel zur ersten Epoche. Der Skandal mit dem Kindesmißbrauch war ebenfalls völlig übertrieben…

Halten Sie die Empörung über seinen Mißbrauch Minderjähriger für übertrieben?

Es ist bis heute nicht erwiesen, daß er es getan hätte. Man hatte sich außergerichtlich geeinigt.

Halten Sie ihn für unschuldig?

Nein.

Sie verstricken sich in Widersprüche, Herr Braybrook. War Jackson schuldig oder nicht?

Was weiß denn ich, ob er schuldig war? Bin ich Richter? Bin ich Augenzeuge? Die Öffentlichkeit überschätzt ihre Rolle, das ist ihr permanentes Problem. Man trägt Berichte aus allen möglichen Medien zusammen und glaubt, daraus ein Urteil bilden zu können und zu dürfen. Mein Standpunkt ist: ich kann nichts zu den Vorwürfen gegenüber Jackson sagen. Leider meinen Millionen von Menschen, dies tun zu müssen, und das heizt den Hype ebenfalls an. Illustrierte leben von dieser Gier nach Sensationen. Und wenn es keine gibt, erfindet man eben welche. Überschriften mit Fragezeichen usw. – sowas sollte man nicht lesen, das ist unseriös. Also: die Rolle der Öffentlichkeit in Epoche 2 war ebenfalls übertrieben.

Und Epoche 3 nicht minder, schätze ich.

Richtig. Jackson starb unerwartet und auf einmal war alles vergeben und vergessen. Jackson wurde kanonisiert, verkaufte Platten wie seit 2 Jahrzehnten nicht mehr. Dabei waren die Aufnahmen auch nicht besser geworden in der Zeit – wenn auch nicht schlechter.

Sie waren grandios. „Beat it“ ist ein Knaller.

Das war Beat it die 15 Jahre davor auch. Und selbst, wenn beim Prozeß in den 90ern rausgekommen wäre, daß Jackson ein Pädophiler ist: Beat it wäre auch weiterhin eine Granate. Verstehen Sie nicht? Hype, Image und Musik muß man trennen können.

Kann man das überhaupt? Macht nicht gerade diese Melange die Popmusik so interessant? Sie behaupten doch immer von sich selbst, Konstruktivist zu sein. Na bitte: die größten Konstruktivisten, die Kinder und Jugendlichen, fahren auf Pop ab.

Erzählen sie mir nicht, daß das in der sogenannten U-Musik nicht auch der Fall wäre. Und was den Konstruktivismus angeht: seine größte Schwäche ist die, daß man ihn zur Rechtfertigung des Positivismus heranziehen kann. Nach dem Motto: was ist, ist gut so.

Herr Braybrook, Sie sind eine Spaßbremse. Finden sie Lady Gaga nicht auch sexy?

Ich habe sie mir bisher unter diesem Gesichtspunkt noch nicht angeschaut. Ihre Musikvideos jedenfalls haben mich noch nicht davon überzeugt, daß sie so etwas wie eine Königin ist. Noch nicht mal eine der Popmusik.

Sie machen Späße. Wo schauen Sie denn hin? Versuchen Sie , ihr ethisches Bewußtsein zu entdecken, während sie mit ihrem knackigen Po wackelt?

Sie ordinärer Sack, Sie. Doch, natürlich sieht man ihren Arsch. Da ist ja fast nichts anderes als ihr Arsch in ihren Videos.

Sonst entdecken sie nichts?

Doch, ihre Titten und die Ärsche ihrer Mittänzerinnen, die im Übrigen weitaus knackiger sind als ihr eigener.

Jetzt sind sie ordinär. Also scheint Sie ja doch etwas dazu bewogen haben, hinzusehen.

Natürlich sehe ich hin. Ist doch klar. Wenn mir eine den Hintern hinstreckt, schaue ich hin. Aber ich schaue nicht gezielt nach Lady Gaga. Und schon gar nicht interessiere ich mich für ihre Musik. Sie ist einfach belanglos.

Was ist mit den Beatles? Als John Lennon erschossen worden ist, haben Sie doch auch Nachrichten geschaut, Beatles-Musik gehört. Und war es nicht auch so, daß kurz nach dem 08.12.1980 Lennons Platte die Charts der halben Welt angeführt hat? Sie sind Beatles-Fan und ich behaupte, daß Sie jetzt den Hype bei den Beatles natürlich für gerechtfertigt halten – weil deren Musik ja gut war. Aber ist das nicht exakt die Begründung, die ein Jackson- oder Gaga-Fan für seine Blindheit geben würde?

Zunächst mal war ich noch ein Kind, als Lennon erschossen wurde. Da darf man ruhig ein wenig spinnen. Und außerdem halte ich auch den Hype der Beatles für nervig.

Die Musik der Beatles war also auch gehyped?

Schon, klar. Aber ein paar Platten und Songs waren derart gut, daß sie auch Jahrzehnte nach dem Hype noch alle Menschen begeistern. Wenn etwas derart Bestand hat, kann man es nicht mit dem Hype allein erklären. Gehypte Stars verschwinden irgendwann in der Versenkung. Deshalb ist Jacksons Musik auch nie wirklich weg gewesen. Sie war einfach gut, Hype hin oder her. Das Gleiche gilt für die Musik der Beatles oder jene von Pink Floyd.

Nix Neues dabei?

Im Gegenteil. Arcade Fire, Radiohead, dEUS. Es gibt immer wieder gutes neues Zeug. Und das darf dann auch gerne gehyped werden.

Zurück zu Bohlen.

Bitte nicht. Der hatte schon genug Aufmerksamkeit.

Also gut: sie haben gesagt, bei den Beatles sei es die Musik gewesen. Wie haben sie sie kennengelernt.

Mein älterer Bruder hat sie dauernd gehört.

Ist das kein Hype, nur weil er nicht von den Medien inszeniert ist?

Doch, Sie haben recht. Das Wort des großen Bruders hat manchmal mehr Gewicht als das der Eltern. Was der cool findet, findet man auch cool. Ein weiterer Punkt ist dann natürlich die Dauerberieselung. Vielleicht bin ich auch vom Hype beeinflußt. Aber selbst, wenn es alle anderen Milliarden Fans auch gewesen wären – wieso wachsen immer wieder neue Generationen heran?

Sie alter Beatles-Fan.

Für den Status eines Fans bin ich zu alt. Aber nehmen sie Bach. Oder Beethoven. Es gibt einfach eine Art, Musik zu machen. Manche beherrschen diese Art nicht nur meisterhaft, sie sind darüber hinaus auch in der Lage, etwas Neues zu schaffen. Das Genie fällt aus dem Rahmen, gerade weil es ihn beherrscht. Und wenn dann der Rest der Welt kapiert, daß das funktioniert, akzeptiert er den neuen Rahmen. Bohlen hat nie den Rahmen verlassen, nie etwas Neues geschaffen. Er hat Etabliertes gut vermarktet und nichts weiter. Dazu muß man nicht Musik machen. Das kann man auch bestens mit Aktien.

Warum macht er es dann nicht?

Weil er den Musikern etwas voraus hat.

Ich bin gespannt, was das ist.

Es ist der Geschäftssinn. Der ist bei ihm ungemein ausgeprägt. Irgendwie hat er früher mal Fuß in der Musikindustrie gefaßt. Seine Musikalität war beschränkt. Aber dank seines Geschäftssinnes hat er sich mangels Konkurrenz schnell so viel Freiraum verschafft, daß er bald machen konnte, was er wollte. Denkt er zumindest.

Ich nehme an, sie erklären mir gleich, warum er eben nicht machen kann, was er will.

Er ist für musikalisch Verarmte up to date, aber das richtig gute Zeug, den heißen Scheiß, den sich die Kids auf dem Pausenhof zeigen – sowas wird er nie hinkriegen. Er begründet nichts, sondern kopiert, reproduziert. Das hat schon fast etwas von Persiflage.

Muß denn jeder Musiker etwas Neues erfinden? Was war denn an Queen in den 80ern originell?

Der Stil vielleicht weniger, aber da waren immer noch gute Melodien. Erinnern Sie sich an „Save me tonight“, den ersten „Hit“ des ersten „Superstars“ Alexander Klaws? War das nicht schrecklich? Zwischen diesem Lied und „Radio Gaga“ liegen Welten, obwohl sie beide nicht das Rad der Musik neu erfinden.

Stört es Sie, daß Millionen Menschen Bohlens Musik kaufen?

Nein. Es stört mich, daß Millionen Menschen Bohlen für gut halten und als Begründung dafür angeben, da müsse ja Talent sein, wenn einer so viel Platten verkauft. Vielleicht halten ihn manche sogar für ein Genie. Das ist mir zu platt. Er ist ein verdammt guter Verkäufer, sonst nichts. Musik ist etwas, das er so ein wenig nebenher kann, aber genau das wird in den Mittelpunkt gerückt. Bohlen, der Musiker; Bohlen der Produzent. Käse. Bohlen ist vor allem ein Monopolist und hat eine Riesen-Klappe. Allein dafür gehört ihm schon mal der Bart gestutzt.

Herr Braybrook, wie ist das, wenn man so viel nachdenkt, bevor man einfach abtanzt? Bevor man analysiert hat, wie ernst der Interpret das meint oder ob das, was er tut, berechtigt ist, ist der Song vorbei. In der Pop-Welt ist nach dreieinhalb Minuten Schluß.

Sie irren sich. Bei mir geht es auch nicht länger als ein paar Sekunden, bis mir ein Lied gefällt. Aber manchmal beginnt eines vielversprechend und nach der ersten mittelmäßigen Strophe kommt ein dünner Refrain. Dann höre ich auf zuzuhören oder zu tanzen.

Warum haken sie das dann nicht einfach ab? Hat ein schlechter Song eine tiefgreifende Analyse verdient?

Nein, aber wenn da einer seit Jahrzehnten mein Gehör quält und den Sockel, auf den ihn eine Armee von Anspruchslosen gehoben haben, dazu nutzt, narzisstische Hymnen auf sich selbst und Schmähreden gegen arme fehlgeleitete Kinder abzulassen, muß ich doch wenigstens in meinem Blog etwas dazu sagen, oder nicht?

Wie schlecht ist Ihr Menschenbild wirklich? Ein Narziß, eine Armee von Anspruchslosen, fehlgeleitete Kinder … gibt es auch Gutes auf dieser Welt?

Natürlich. Z.B. die Beatles. Oder etwas moderner eben Arcade Fire. Beirut. Es gibt massenhaft gute Musik auf dieser Welt. Man kann sich gar nicht durchhören, selbst wenn man Zeit gewinnt, indem man Trash wie DSDS aus seinem Leben bannt.

Herr Braybrook, jeder braucht Trash. Welche Sorte bevorzugen Sie?

Alte Computerspiele-Rezensionen. Fast-Food. Alte Buchhaltungs-Bücher, von Hand geführt. Das ist zu nichts mehr nutze, hat auch keinen antiquarischen Wert, aber ich finde es äußerst spannend, so etwas durchzublättern. Nur ist das mein Trash. Den habe ich mir selbst ausgesucht und wenn ich lange genug überlege, kann ich sogar das eine oder andere zur Frage äußern, warum es mich fasziniert. Z.B. kann man bei Computerspiele-Rezensionen ganz schnell bei der Frage landen, wie sich die Technik verändert hat. Und wenn man ein wenig weiterdenkt, fällt einem auf, daß sich bestimmte Dinge überhaupt nicht verändert haben: es gab schon immer Spiele mit guter Aufmachung, aber schlechter Spielidee und umgekehrt. Manchmal gabs sogar beides. Was noch viel interessanter ist: die Reaktion der Presse darauf ist auch heute noch ganz ähnlich. Es gab Publikationen wie die Happy Computer, aber auch die ASM. Letztere kam bei weitem nicht an die Qualität der Markt&Technik-Publikation heran. Fast so wie die Computerspiele-BILD. Es ist also mein selbstgewählter Trash, der nur auf den ersten Blick als Marotte dasteht und sich bei näherer Betrachtung als Fundgrube meiner inneren Überzeugungen offenbart. Naja, nicht ganz: zumindest Fast-Food ist für jeden da und sagt nichts über mich aus. Vielleicht könnten wir nach 2 Stunden Gespräch über das Thema Fast-Food etwas über mich herausfinden, aber in diesem Fall bleibe ich doch lieber bei an der Oberfläche. Also: über Fast-Food spricht man nicht, man konsumiert es.

Herr Braybrook, darf ich Sie auf eine Runde Chicken McNuggets einladen?

Och, bitte kein McDonalds. Lieber Burger King.

Sie sind ja ein richtiger Rebell.

Quatschen Sie nicht. Gehen wir los, ich habe Hunger.

Na gut. Und los!

Interview: Feyd und die Kirche Teil II

Sie haben immer noch nicht gesagt, weshalb wir heute noch eine Kirche brauchen.
 
Sie ist das Dach über dem Kopf der Gemeinde. Solidarität entfaltet sich erst in Gemeinschaft. Es gibt aber noch eine andere Komponente. Ob Sie´s glauben oder nicht, aber beten macht in der Gemeinschaft stark.
 
Kompanien marschieren in Gemeinschaft für den Krieg.
 
Und die Gläubigen beten in Gemeinschaft für den Frieden.
 
Das hält Saddam Hussein nicht auf.
 
Sicher hat letztlich nur der Irak-Krieg dazu geführt, Saddam Hussein zu fassen. Aber war das eine ethisch richtige Entscheidung? Hat der Krieg die Region befriedet, den Menschen zu einem besseren Leben verholfen?
 
Wenn Sie die Exil-Irakis fragen, die vor Husseins Staatsterror fliehen mußten, werden Sie ein klares „Ja!“ erhalten.
 
Nur ist das nicht die einzige Folge dieses Krieges. Zählen Sie die Leichen auf dem Weg zu dieser Folge. Und überhaupt: was gibt Ihnen das Recht, Weg und Ziel einseitig zu definieren? Indem man den Krieg zugesteht, Mittel zum Zweck zu sein, muß man ja nur noch den Zweck positiv formulieren, und schon kann man die Mittel heiligen. „Weil man dadurch den bösen Hussein beseitigen konnte, war der Krieg heilig.“ – tote irakische Soldaten sind eine Folge, kein Mittel. Sie sind die Realität, die nicht unter den Tisch gekehrt werden kann. Ihre Familien sind genauso von ihrem Tod betroffen wie kene von US-Soldaten. Welchen Unterschied macht das?
 
Sie gehen davon aus, daß der Mensch schlecht ist: weil man in der Politik überhaupt nur erst bestehen kann, wenn man schlecht handelt – was man als Christ ja nicht darf…
 
…soll…

also gut: soll, sollte man von der Politik als Christ am besten die Finger lassen.
 
Ich sagte es bereits: sein Reich ist nicht von dieser Welt. Es gibt sicher redliche Politiker oder politische Entscheidungen, aber verantworten muß man sie erst vor Gott.
 
Ich nehme an, Stalin und Hitler haben nicht an Gott geglaubt. Das hat ihnen ihr Werk leicht gemacht, weil sie sich ja vor niemandem verantworten mußten.
 
Ich bin mir sicher, daß sie das nach ihrem Tod mußten.
 
Vor Gott, klar. Das hilft Millionen ermordeter Juden nicht.
 
Aber die Verantwortung vor Gott ist das einzige, was einen Menschen überhaupt davon abhalten kann, bei etwas wie dem Holocaust mitzumachen. Wenige gab es, die sich gegen Hitler gestellt haben. Die meisten haben sich ihre Legitimation außerhalb der Religion geholt. Pater Maximillian Kolbe ist im Hungerturm gestorben. Ihm war klar: ich kann das vor Gott nicht verantworten. Wir können uns nicht aussuchen, in welchen Zeiten unter welchen politischen Umständen wir leben. Wir können nur darüber nachdenken, was gut und was schlecht ist und dann ist es an uns, uns zu entscheiden – völlig unabhängig davon, auf welcher „Seite“ wir stehen. „Seiten“ gibt es nur zwischen menschlichen Kontrahenten. Gott steht für all das Gute, woran wir glauben. Das hat eine ganz andere Qualität als die vom menschlichen Bewußtsein erschaffene Rechtfertigung für „richtiges“ Handeln.

Es gab im Gegensatz zu Maximillian Kolbe etliche in der Kirche, die die Nazis nicht gestoppt, teilweise sogar offen unterstützt haben.
 
Ja, die gab es. Auch in der Kirche. Und selbstverständlich auch außerhalb. Aber die Kirche ist nicht dazu da, diese Welt zu retten. Eine ihrer – nicht-exklusiven – Aufgaben ist die Auslegung der Bibel. Diese wiederum ist die Schnittstelle zwischen der universellen Wahrheit des Evangeliums und den Anforderungen dieser Welt.
 
Und sie ist unfehlbar.
 
Nein. Das Wort Gottes, das Evangelium ist unfehlbar. Bei dessen Interpretation können selbstverständlich Fehler unterlaufen.

Dieses Unfehlbarkeits-Zeug ist für aufgeklärte West-Europäer schwer einzuordnen.
 
Entweder glaubt man an einen Gott oder man glaubt an die naturwissenschaftliche Erklärung des Gottesbegriffs. Der Gedanke, einerseits an eine übernatürliche Kraft zu glauben, die eine Ordnung vorgibt und andererseits natürliche oder besser: naturwissenschaftliche Erklärungen für sie zu finden, ist geradezu lächerlich. Man kann nicht an Gott glauben und das Phänomen Glaube (meist psychologisch) zu erklären versuchen, man kann an Gott glauben und dasselbe tun, man kann aber nicht an Gott glauben und ihn für einen Teil dieser Welt halten, der lediglich quantitativ verschieden von uns, ansonsten aber denselben Gesetzen unterworfen ist.

Was glauben Sie, ist der Grund dafür, daß die Leute es dennoch tun?
 
Wir haben Freiheit zum neuen Glauben erhoben. Der autonome Mensch steht im Mittelpunkt allen Denkens. Da paßt es nicht rein, daß es womöglich eine höhere Ordnung gibt, der er unterworfen ist. Wir akzeptieren ja kaum noch die physikalischen Grenzen unseres Seins, beispielsweise im Sport, wo Doping in Kauf genommen wird, um immer noch mehr Leistung zu bringen, aber auch in der Raumfahrt oder der Computertechnik. Dieses Denken prägt uns und wir übertragen es auf die Moral: der Mensch kann alles und immer mehr, er soll auch alles dürfen können. Ein Gott, dessen Gesetze dieses Prinzip einschränken und der Grenzen aufweist gefällt uns nicht. Eher schon ein Gott, der selbst Grenzen unterworfen ist und den wir lediglich deshalb vergöttert haben, weil wir ihn bisher nicht durchschaut haben. Es gab in den 90ern einen Roman, „Ein Mensch namens Jesus„, in dem viele seiner Wunder naturwissenschaftlich erklärt worden sind. Die Leute haben es gekauft wie die warmen Semmeln.
 
Was spricht dagegen, daß jeder selbst entscheiden dürfen soll, ob er an Jesus als Mensch, an Jesus als Gott oder gar nicht an Jesus glauben soll?
 
Nichts. Wir haben die Religionsfreiheit. Jeder kann doch denken, was er will. Gerade deswegen verstehe ich nicht, wieso Menschen sich von der Kirche eingeschränkt fühlen. Wer es nicht glaubt: nur zu. Wer aus der Kirche austreten will: bitteschön.

Warum wird man da eigentlich reingeboren und muß dann erst umständlich austreten?

Die Eltern haben das Recht, ihr Kind entsprechend ihrer Wertmaßstäbe zu erziehen. Wenn sie es taufen lassen wollen, ist das ihr Recht und selbstverständlich auch sinnvoll. Bevor Sie das ungerecht finden, bedenken Sie, daß das für alle anderen Bereiche auch gilt, z.B. politische Einstellungen, Kulturtechniken und Symbolsysteme – sie bekommen sie quasi in die Wiege gelegt und sie brauchen eine ganze Weile, das einerseits zu verinnerlichen und sich andererseits davon zu distanzieren.

Sozialisation?

Sie sagen es.

Die findet doch längst durch das Fernsehen und die Clique statt.

Auch das ist eine unkorrekte Annahme. Neben Fernsehen und Peer Group findet Sozialisation nach wie vor auch in der Familie statt, zumindest bis zu einem gewissen Alter. Die grundlegende Erziehung von Beginn an mit aller Pflege und familiären Nähe erledigen die Eltern üblicherweise von alleine und dazu gehört eben auch die Vermittlung von Werten – meist durch das Vorleben in der Familie. Der Staat kann und will das nicht machen.
Zum „umständlichen Austritt“: Sie gehen mit Ihrem Perso zum Standesamt oder Amtsgericht. Dort füllen Sie ein Formular aus, bezahlen eine Bearbeitungsgebühr und lassen dies auf Ihrer Lohnsteuerkarte vermerken. Die Kirchensteuer wird wie jede andere behandelt und diese Prozedur gilt für alle anderen steuerlichen Änderungen.

Na schön, aber warum bin ich zwangsweise Mitglied?

Sind sie nicht. Wenn Ihre Eltern Sie getauft haben, sind sie bis zum Austritt Mitglied und sollten Sie als Mitglied dann einkommensteuerpflichtig werden, werden auch Kirchensteuern abgebucht – aber auch das läßt sich ändern. Der einzige Weg, das zu verhindern, wäre, Eltern zu verbieten, ihr Kind zu taufen.

Der Staat sollte das tun, denn Eltern greifen hier in das Persönlichkeitsrecht des Kindes ein.

Sie bekommen von Geburt an die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern. Das wäre Ihrer Logik nach auch ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht seitens des Staates. In Wirklichkeit werden sie dadurch Träger von Rechten, die Sie schützen. Es ist ein Recht, Werte vermittelt zu bekommen, weil man ohne sie orientierungslos ist.

Das ist nicht das Gleiche. Durch die Taufe werde ich Träger von Pflichten, die ich nie wollte.

Ich könnte sagen: „So ist das eben mit den Pflichten, man kann sie sich nicht aussuchen.“, aber das wäre natürlich etwas fies dahergesagt. Ein wahrer Kern steckt hingegen schon drin: wenn Werte für einen Staat unabdingbar sind und diese demnach in der Familie vermittelt werden sollen, muß dies auch für die Vermittlung religiöser Werte gelten sollen. Diese Aufgabe gibt der Staat den Eltern vertrauensvoll in die Hände, weil er, der Staat, um seine Beschaffenheit als Konstrukt weiß. Weiter wäre die Bandbreite der möglichen zu vermittelnden Werte derart mannigfaltig, daß eine Ausformulierung zu schwammig wäre – sie würde einfach alles beinhalten und nichts aussagen.
Und angenommen, keiner wollte die Kirchensteuer mehr bezahlen: wer sollte denn die ganzen sozialen Dienste betreiben, die durch den Wegfall der Kirchensteuer wegfielen?

Die Kirche steckt einen Großteil in die eigene Tasche und das meiste am Kindergarten zahlt der Staat.

Ein Pfarrer ist nun mal ein Amtsträger in der Kirche. Haben Sie sich den Terminkalender eines Pfarrers mal angesehen? Vielleicht verstehen Sie dann, warum der Zölibat – egal, wie man zu ihm steht – auch Freiräume schafft. Stellen Sie sich vor, ein Pfarrer hätte eine Familie zu umsorgen… Jedenfalls ist das ein Haufen Arbeit – soll die unbezahlt bleiben? Dazu kommt eine Menge an Verwaltungsarbeit innerhalb kirchlicher Einrichtungen – vielleicht gibt es irgendwann mal Programme, die so etwas automatisch tun, im Moment geht das nicht ohne Menschen. ErzieherInnen, AltenpflegerInnen – kurz: 1 Million Beschäftigter im kirchlichen Dienst in Deutschland müssen bezahlt werden. Und dann sind noch lange nicht die Kosten für Verpflegung der Kindergartenkinder und Immobilien bezahlt. Und abgesehen davon machen das fast alle so. Die Leistungen werden öffentlich ausgeschrieben und die Träger Sozialer Arbeit bewerben sich darum. Das hat für den Staat den Vorteil, daß er sich nicht um Dinge kümmern muß, von denen er wenig bis nichts versteht. Die Träger haben Know-How und sind vor Ort. Das ist unbezahlbar. Das macht der Pari genauso wie die AWO.

Warum braucht die Kirche Immobilien?

Sollen die Kindergärten jetzt auf der Straße gehalten werden?

Mir wäre es lieber, der Staat würde selbst Soziale Arbeit tun.

Er tut es, und es ist ihm schon lange ein Klotz am Bein. Das Subsidiaritätsprinzip geht davon aus, daß der Staat sich nicht in die Belange von Bürgern einmischt – weil dieBürger sowieso besser in der Lage sind, für ihre Belange einzutreten. Da die Kirche seit Jahrhunderten Soziale Arbeit tut, hat sie ein enormes Know-How entwickelt, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dazu kommt eine funktionierende Organisation und Verwaltung. Und glauben Sie mir: reich wird die Kirche dadurch nicht. Um es genau zu sagen: niemand würde diese Jobs freiwillig und nach wirtschaftlichen Maßstäben machen. Sie rechnet sich einfach nicht. Soziale Arbeit ist eigentlich was für „Verrückte“ – oder eben Menschen, die aus Überzeugung in Kauf nehmen, damit nicht reich zu werden. Wenn Sie die Religionen abschaffen würden, gäbe es keine Caritas mehr.

Mitleid schafft ein Abhängigkeitsverhältnis.

Mitleid war der Ursprung der Sozialen Arbeit, er ist es auch heute noch bei vielen Menschen. Aber so, wie diese sich professionalisieren, tun es auch die kirchlichen Verbände. Und sie haben zur Professionalisierung beigetragen. Denken Sie, die ganzen Erkenntnisse der Sozialen Arbeit seien außerhalb des professionellen Umfeldes der Kirchen entstanden? Es gibt Dutzende katholischer Universitäten, die einen guten Ruf besitzen.

Zurück zu den Protesten: 20000 Menschen haben in Spanien öffentlich bekundet, nicht an Jesus zu glauben.
 
Hunderttausende haben das Gegenteil bekundet. Wieso berichten die Medien weit mehr über die Gegendemonstration als über den eigentlichen Event?
 
Weil die Mehrheit für das Etablissement steht. Davon ist genug in den Medien.
 
Das Gegenteil ist der Fall: nirgends weht der Kirche ein eisigerer Wind ins Gesicht als in Deutschland und dennoch tut man hierzulande so, als müsse man sie völlig demontieren. Dabei ist kaum noch etwas da, was man abschrauben könnte. Das Etablissement, von dem Sie reden, ist hierzulande extrem kirchenfeindlich. So sehr, daß man Berichte über den sehr gute besuchten und äußerst erfolgreichen Weltjugendtag für Anti-Kirchen-Propaganda zurechtbiegt.
 
Die Online-Präsenz der Tagesschau berichtete wahrheitsgemäß über Proteste.
 
Und sie verschwieg die Begeisterung hunderttausender junger Menschen. Sehen SIe nicht, daß das Methode hat? Da wird das ganze Jahr über wirklich jede Gelegenheit genutzt, die Kirche fertig zu machen und es gibt ja auch genügend Futter dafür, u.a. das schwindende Interesse der Jugend an Religion und Kirche – hierzulande. International betrachtet steht die Kirche mitnichten so negativ da wir in Deutschland. Das zeigt sich beim Weltjugendtag. Und das ist der Journaille ein Dorn im Auge. Also schreibt man über die im Vergleich winzige Gegendemonstration und will „Der Papst ist ein Nazi!“ gehört haben – selbst, wenns stimmt, bezeugt das doch das Boulevard-Niveau, das bei der Tagesschau kultiviert worden ist. Zurufe werden zum Inhalt eines angeblich seriösen Berichtes. Wer hat das gerufen? Warum? Was bedeutet es? „Nazi“ – das ist ein bestimmter Begriff, der gerade in Deutschland und in bezug auf Deutsche eine ganz bestimmte Bedeutung inne hat. Das einfach so unkommentiert und ohne jeden Zusammenhang in den Bericht zu schreiben, ist nichts als Hetze. Im besten Fall hieße es, der Papst werde von den Spaniern bzw. den spanischen Gegendemonstranten für einen Nazi gehalten – das wäre einer Meldung wert. Aber es war ein einzelner Zuruf, den der Redakteur gehört haben will. Dann kann er auch die anderen Beschimpfungen in den Artikel schreiben, derer es sicher viele gibt. Aber ist das seriös?
Weiter hat er „vermutet“ – und er hat das auch so geschrieben, als Vermutung! – daß die Gegendemonstranten dieselben seien, die zuletzt auch gegen die Regierung auf die Straße gegangen seien, wohingegen die Besucher des Weltjugendtages nicht zu dieser Menge gehörten. Ist das seriös? Es waren hunderttausende gegen die Regierung auf den Straßen, und der Redakteur geht einfach mal davon aus, daß diese nicht am Weltjugendtag teilnehmen. Ist er ein demografisch-telepatisch begates Medium? Wenn man schon Vermutungen anstellt, dann doch die, daß gerade die überwiegend katholischen Spanier an der kirchlichen Veranstaltung teilnehmen. Im Zweifel schreibt man nichts darüber. Oder man macht es, wie selbst für einen Anfänger im journalistischen Bereich selbstverständlich, genau: man recherchiert. Aber wozu auch? Es könnte ja herauskommen, daß die Spanier mitnichten ein Problem mit dem Papst haben.

Demnächst hier der letzte Teil des Interviews